Aus dem Archiv gefischt (2): Kinder an die Macht?

oder: Die Piraten auf ideologischer Kaperfahrt

 „Mir gefällt das Programm der Piraten. Die sind nicht von oben herab. Das ist angenehm. Was die wollen, ist was wir – die Allgemeinheit – uns wünschen. Die Piraten gehen auf einen ein. Man kennt sonst von Politikern nur, dass sie irgendetwas erzählen, bei dem man sich fragt, ob man das überhaupt braucht.“ Pünktchen, 25, Theaterplastikerin, Berlin

„Ich habe sie schon gewählt und werde sie wieder wählen, weil ich sie cool finde. So genau kann ich auch nicht sagen, wieso das so ist. Ich beschäftige mich an sich nicht so viel mit Politik. Aber mir gefällt, dass grundsätzlich alles so offen ist bei denen.“ Sarah Krüger, 27, Auszubildende, Berlin

Die Piraten kommen!“ – 2500 Jahre lang hätte jeder auf diesen Ruf wie folgt reagiert: all seine Wertsachen in der Kabine einschließen, Schwert, Pistole oder was auch immer nehmen, an Deck stürmen und um sein Leben kämpfen. Heute greifen allenfalls jene zum Schwert, deren Existenz am Urheberrecht hängt. Den modernen Piraten attestiert man „Charme“ und „Ehrlichkeit“ oder findet sie zumindest unterhaltsam. Dies gilt nicht nur für ihre potentiellen Wähler (immerhin 12 Prozent der Bevölkerung), für Angela Merkel (die den Piraten voraussichtlich ihre nächste Kanzlerschaft verdanken wird) und für stets sensationsgeile Fernsehmacher, es gilt auch für die meisten politischen Kommentatoren – „von Faz bis Taz“, wie man so sagt. Nicht jeder versteigt sich dabei in so unfassbaren Blödsinn wie Jakob Augstein, der die Piraten zu „guten Populisten“ verklärt und daraus einen zivilisatorischen Vorsprung Deutschlands gegenüber den schlimmen Nazi-Nachbarn Frankreich (LePen) und Niederlande (Wilders) ableitet. Aber, ob da jemand wie Stefan Kuzmany (ebenfalls auf SpiegelOnline) den Piraten im väterlichem Ton ein paar Dinge zu erklären versucht oder ein Georg Fülberth sich in der aktuellen Konkret auf die gewohnte Position zurückzieht, dass der Kapitalismus ja eh in Auflösung befindlich ist und es mithin egal sei, was die Piraten wollen – „charmant“ und „ehrlich“ finden sie sie allemal und übersehen dabei gerne, dass der Erfolg der Piraten etwas zutiefst Beunruhigendes in sich birgt, bedenkt man den Zustand der Gesellschaft, der diesen Erfolg ermöglicht.

Was die Kommentatoren so charmant an den Piraten finden, ist, dass sie von nahezu nichts eine Ahnung haben, aber trotzdem mitmischen wollen – „irgendwie“ für „irgendwas“ und mit ordentlich Wirbel. Was die Kommentatoren ehrlich finden, ist, dass die Piraten diese fehlende Ahnung sogar im Parteiprogramm fixierten, indem sie Außen-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik gar nicht erwähnen, der Umweltpolitik gerade mal vier schwammige Zeilen gönnen und der Energiepolitik sogar nur drei (in denen das Wort Atomkraft nicht auftaucht). Der umso größere Netiquette- bzw. Nettiquette-Klops im Programm spricht sich zwar gegen Rassimus und für „freie Selbstbestimmung von geschlechtlicher und sexueller Identität bzw. Orientierung“ aus, schweigt aber ausdrücklich (Kristina Schröder wird’s freuen) zu Sexismus und Emanzipation. Und geradezu dröhnend tönt das programmatische Schweigen zu allen Kapitalismusfragen: Ob Managergehälter, Mindestlohndebatte, „Finanz-“ und „Eurokrise“, Bankenrettung aus Steuergeldern, Investment-Amok oder Rating-Agenturen die Diktaturen auf- und Demokratien abwerten – das alles gibt es gar nicht in der Welt der Piraten. Hier gibt es nur den Wunsch nach „offenen Märkten“ und ein abermals sehr schwammiges Bekenntnis zu einer Existenzsicherung für alle – eine Forderung, die man (obgleich sich die Idee sogar im FDP-Programm findet) anscheinend für so monströs und potentiell linksradikal hält, dass man schnell noch die Beteuerung anhängt: „Wir wollen Armut verhindern, nicht Reichtum.“

Wer die Piraten nicht so lustig findet, das sind (neben der FDP) vor allem Grüne und Linke. Ihnen wird langsam klar, dass es diese „Mehrheit links von der Mitte“, von der sie nach Wahlen regelmäßig träumen (obgleich diese schon daran scheitert, dass die sich SPD in absehbarer Zeit kein Zentimeterchen mehr nach links bewegen wird), eine Chimäre ist. Denn auch ihre Jungwähler wandern zu den Piraten und machen damit deutlich, dass sie ihr Kreuzchen bei Grünen oder Linken bisher nicht wegen sondern trotz der linken Restposten in deren Programmen gemacht haben. So wenig, wie die Piratenpartei „links“ zu verorten ist, so wenig sind es auch ihre jungen Wähler. Ja, sofern diese vorher die Grünen wählten – das wird nun offensichtlich –, waren es wohl weniger Umwelt- oder Energiepolitik, die sie dazu brachten, als vielmehr Claudia Roths bunte Kleider, Cem Özdemirs Koteletten und die lustigen, bunten Plakate mit den Sonnenblumen. Hätte die FDP ihre Führungsriege frühzeitig entschlipst und eine coole PR-Agentur aus dem Pop-Bereich engagiert, es hätte die Piraten vielleicht nie gegeben.

Was die Piratenpartei neben ihren zwei Kernthemen (Abschaffung des geistigen Eigentums und „Transparenz“) wirklich ausmacht, was also sozusagen ihren Markenkern bildet, ist gleichzeitig dessen Hülle: Extrem gutes Marketing. Auf sich aufmerksam machen und massentauglich erscheinen – das können die Piraten, das haben sie im Internet gelernt. Die Farbe Orange ist immer noch die beliebteste Wandfarbe in Berliner Clubs, und die schwarze Fahne ist so schick designet, dass sie zwar weiter für Rebellion steht, aber auch der konservativste Kommentator niemals den „schwarzen Block“ assoziieren könnte. Die Plakate sind zuweilen ziemlich witzig, die Kandidaten, die darauf abgebildet sind, tragen meist lässigen Retro-Style. Und das beste ist der Name: „Piraten“. Das klingt romantisch und frei. Damit kann jeder was anfangen. Die Jüngeren assoziieren dabei eben „Fluch der Karibik“, die Älteren vielleicht jene Piratensender, die uns früher damit erfreuten, ohne Lizenz unsere Musik zu spielen, wenn die von den öffentlich-rechtlichen Sender verschmäht wurde. Letztere Assoziation wirkt sehr sympathisch, ist aber leider unangebracht. Die Piratensender klauten nämlich keine Musik, sondern machten Werbung für sie. Erstere Assoziation klingt dagegen eher dämlich, ist aber relativ zutreffend: „Fluch der Karibik“ ist ein unterhaltsamer und cool durchdesigneter Film, massentauglich und weitgehend inhaltsfrei, mit Hauptdarstellern die allerlei lustigen Unsinn reden. Das kommt der medial erfahrbaren Parteiwirklichkeit der Piraten schon ziemlich nah.

Im „Piratenkodex“ (der Partei, nicht etwa des Films!) heißt es: „Piraten sind frei. Piraten handeln nur freiwillig. Piraten leben privat. Piraten fragen nach“, usw. Das mieft zwar alles ein bisschen nach Pfadfinderehre oder Sesamstraße (die im Kodex sogar zitiert wird), aber es kommt auch noch besser: „Piraten sind weder heilig, noch erleuchtet. Piraten sind durch ihre eigene Hölle gegangen. Piraten haben ihre Schatten und Dämonen angeschaut, angenommen, offenbart und durchschaut.“ Und wem das noch nicht abgefahren genug ist, für den gibt es dies: „Sie gehen aufrecht, haben ein Funkeln in den Augen und ein Schmunzeln auf den Lippen. (…) Das Feuer brennt in ihrem Bauch!“ Ein bisschen Politik kommt natürlich auch drin vor: Für linke bzw. grüne Sympathisanten beispielsweise gibt es vage Bekenntnisse gegen Diskriminierung sowie für eine saubere Umwelt, und natürlich wird auch im Kodex (wie schon im Programm) versichert, dass die Besitzenden keine Angst haben müssen: „Piraten sind keine Räuber. Hiermit ist Respekt vor geltenden Gesetzen und materiellem Privateigentum zum Ausdruck gebracht“ – wohlgemerkt: nur materiellem, nicht geistigem Eigentum. Inhaltlich gibt es also kaum Abweichungen zwischen Kodex und Programm, aber während das Programm sich tapfer müht, seriös zu klingen, wird im Kodex schon über die Sprache deutlich, was die Piraten wirklich sind: irgendwie jung, irgendwie anders, irgendwie cool. Und mit diesem Nimbus schaffen sie es, alle Belege ihrer politischen Unkenntnis, das ganze oft peinliche und sich ständig widersprechende Gestammel in Interviews oder Talkshows ehrlich und authentisch wirken zu lassen. Das funktioniert, weil sich ihre Wähler (zieht man die reinen Protestwähler ab) in diesem Gestammel leider tatsächlich wiedererkennen.

Mit den Piraten drängt jene Generation zu Mitbestimmung und Macht, die seit nunmehr 12 Jahren für anhaltend miserable Ergebnisse in der PISA-Studie sorgt (ganz schlecht: Leseverständnis!), denen man mit Bachelor-Scheuklappenstudiengängen interdisziplinäres Weltverständnis verwehrte und deren Ersterfahrungen auf dem Arbeitsmarkt durch unbezahlte Praktika geprägt wurden. Kein Wunder also, dass Bildungsfragen (Abschaffung von Studiengebühren etc.) im Piratenprogramm relativ viel Platz eingeräumt wird. Kein Wunder aber auch, dass man fälschlicherweise glaubt, im Zeitalter von Wikipedia und Google auf Allgemeinbildung verzichten zu können. So heißt es im Programm: „Ein immer größerer Teil des zum Verständnis nötigen Wissens wird also nicht durch Allgemeinbildung geliefert, sondern bei Bedarf erworben.“ Gemeint ist: Eigenständig im Internet, jenem Medium also, das – durch seinen Zwang zur Kürze – dazu neigt, komplexe Themen auf Plattitüden zu reduzieren, und das jeder noch so irren Weltsicht zuverlässig Argumente liefert. Deshalb klingen die Wähler der Piraten in Umfragen meist ebenso konfus, wie die Kandidaten der Partei, nicht nur die beiden eingangs zitierten Pünktchen und Sarah. Aus den verschiedenen Wortmeldung offenbart sich ein manchmal amüsantes, manchmal schlicht erschreckendes Patchwork irgendwie im Netz aufgeschnappter „Infos“, sowohl zu politischen Themenfeldern, als auch über diese Piratenpartei, die sie zu wählen gedenken. Man lädt sich sozusagen die Begeisterung für diese Partei runter wie ein Computerprogramm, bei dem man ja meist auch sein Häkchen ins Feld „Lizenzvereinbarung gelesen“ macht, ohne diese auch nur überflogen haben. Lizenzvereinbarungen oder Parteiprogramme zu lesen kostet Zeit, und Zeit hat man im Internet nicht. Wird schon alles okay sein … Mit der Auslagerung der „Allgemeinbildung“ (meint: Geschichte, Philosophie, Geographie, Politologie etc.) vom eigenen Hirn ins Internet, wird aber nicht nur das Weltverständnis des Einzelnen auf Schlagworte verkürzt, auch der argumentative Kampf zwischen Sicht- und Denkweisen (Grundlage der demokratischen Gesellschaft) ist so nicht mehr möglich und soll – nach der Ideologie der Piraten – durch das gemeinsame Surren des „Schwarms“ ersetzt werden, der mit kollektiver Intelligenz aus allem Halbwissen am Ende schon das Bestmögliche hervorbringt.

Dieser Glaube an die „Schwarmintelligenz“ – für die Piraten Idealvorstellung demokratischer Meinungsbildung – ist mitnichten eine demokratische Idee. Die Staaten von Bienen, Wespen oder Ameisen sind keine Demokratien. Grundlage der Demokratie ist das Individuum, das eigene Interessen hat, die es im Bund mit anderen Individuen durchzusetzen trachtet. Grundlage der Schwarmintelligenz ist das Kollektiv mit behaupteten kollektiven Interessen. Hier scheint (auch wenn man einen internationalistischen Anspruch zugrunde legt) eine bedenkliche anti-individualistische Volkskörper-Ideologie durch. Offensichtlich wird das, wenn es zur Urheberrechtsfrage (einem der zwei Kernthemen der Partei) im Programm heißt: „Im Allgemeinen wird für die Schaffung eines Werkes in erheblichem Maß auf den öffentlichen Schatz an Schöpfungen zurückgegriffen.“ Mit diesem Satz will die Piratenpartei begründen, dass dem Künstler, das von ihm geschaffene Werk nicht gehört, sondern Besitz des Volkskörpers („Schwarms“) ist und von diesem frei kopiert und überall verwendet werden kann. Gemeint ist: Der Autor verliert nicht nur das Recht auf eine angemessene Entlohnung, sondern auch die Entscheidungsfreiheit in welchem Rahmen er sein Werk gedruckt sehen möchte. Findet er sich also – etwa mit einer lustigen Alltagsgeschichte – plötzlich im Autorenverzeichnis der rechtsradikalen „Jungen Freiheit“ wieder, muss er das hinnehmen, schließlich sind wir ja alle (die Piraten, die „Junge Freiheit“ und die Autoren) irgendwie „ein Schwarm“. Als Tobias Künzel von der Band Die Prinzen kürzlich in einem SAT1-Talk berichtete, er habe einen seiner Songs als Untermalung eines Nazi-Hetzvideos auf YouTube entdeckt, antwortete Piraten-Vertreter und Grufti-Produzent Bruno Kramm sinngemäß: „Ist das so schlimm?“ *

Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die mangelnde Abgrenzung der Piraten nach Rechts neue Bedeutung. Wenn da der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz über einen Holocaust-Leugner in seiner Partei sagt, der sei „bereits 2008 dafür verwarnt worden und man kann nach den Grundsätzen der Rechtsprechung nicht jemanden zweimal für dasselbe Vergehen bestrafen“, so offenbart sich darin nicht nur der übliche Piratenunsinn (eine Verwarnung ist keine Bestrafung, sondern deren Ankündigung), sondern auch die Abkehr vom alten Grundsatz, dass Faschismus keine Meinung sondern ein Verbrechen ist. Und das hat sogar eine gewisse Logik, denn, dass die Piraten faschistische Ansichten zulassen, ist ihrem Anspruch geschuldet, eben nicht eine Interessengruppe zu vertreten, sondern alle, den ganzen „Schwarm“, vulgo: das Volk. Dies ist weder eine basisdemokratische noch gar eine anarchistische Vorstellung, dies ist – da es sich hier eben nicht um eine systemalternativ agierende Graswurzelbewegung, sondern um eine wählbare Partei handelt – schlichtweg Populismus, also: Der Masse nach dem Maul reden, wo immer es diese Masse gerade hintreibt. Insofern lag FDP-Generalsekretär Patrick Döring (nicht nur blinde, auch blöde Hühner stolpern mal über ein Korn) mit seinem Begriff von der „Tyrannei der Masse“ gar nicht so falsch. Allerdings ist das keine Spezialität der Piraten, sondern parteipolitischer Zeitgeist. So wurde noch 2003 ein Martin Hohmann aus der CDU ausgeschlossen, weil er die Juden als „Tätervolk“ bezeichnete, während heutzutage ein Thilo Sarrazin trotz seiner kryptofaschistischen Thesen SPD-Mitglied bleiben darf, einfach deshalb, weil so viele Leute ihn toll finden. Ob dagegen der Populismus der Piraten ein „guter Populismus“ (Jakob Augstein) ist, weil diese gerade – 67 Jahre nach Kriegsende! – allen Ernstes per Parteitagsbeschluss entschieden haben, dass es einen Holocaust gab, sei dahingestellt. Wenn es eine tatsächliche Besonderheit des Piraten-Populismus gibt, so die, dass er hier als Basisdemokratie missverstanden und also offen proklamiert wird. Man ist sogar ein bisschen stolz auf all die Irren in der Partei und sammelt ihre Kommentare inzwischen auf einer eigenen Website.

Sucht man einen Vergleichsmaßstab für die Piraten in der Parteienhistorie, bieten sich weniger die Grünen der frühen als vielmehr die Republikaner der späten achtziger Jahre an. Auch hier drängte eine Partei an die Macht, die mit sehr schwammigen Vorstellungen (irgendwie deutsch und national) und zwei Kernthemen („Überfremdung“ und Ablehnung der EG) überraschend viel Zuspruch bekam. Genau wie heute die Piraten, hatten sie das Glück, von sehr vielen Leuten aus den falschen Gründen (beziehungsweise aus „Protest“) gewählt zu werden, und das Problem, plötzlich mehr Führungspersonal stellen zu müssen, als sie eigentlich hatten, weshalb sich die eilig Berufenen dann auch gleich um Kopf und Kragen plapperten. Was den Republikanern dagegen glücklicherweise fehlte, war der Piraten-Kniff, dieses widersprüchliche Gestammel cool und neu erscheinen zu lassen. Das allgemeine Bildungsniveau war vielleicht noch nicht tief genug gesunken. Trotzdem hatten die Wahlerfolge der Republikaner (und der gleichtönenden DVU) einen nicht zu unterschätzenden Anteil am nationalistischen Rollback der frühen neunziger Jahre, bis hin zur de facto-Abschaffung des Asylrechts im Zuge der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock. Denn noch immer haben die etablierten Parteien versucht, eine Konkurrenz, die plötzlich mit 8% (Reps) oder 13% (Piraten) Zustimmung daherkommt, zu neutralisieren, indem sie ihr die Themen klauen. In der Politik gab es nie ein Urheberrecht.

Nun sind aber die Piraten ebenso wenig eine rechte wie eine linke Partei, auch wenn ihr Berliner Fraktionschef ihren grandiosen Aufstieg unlängst mit dem der NSDAP verglich und im Nachklang immerhin den Anstand hatte, beim Reichs … äh Bundesparteitag doch nicht für den Vorsitz zu kandidieren, und auch, wenn der Berlin-Vorsitzende Hartmut Semken schreibt: „Ich anerkenne, dass wir ein Naziproblem bei den Piraten haben“. Nein, die Piraten sind vor allem eine Internet-Plattform auf der mehrheitlich junge, täglich im Netz herumgoogelnde Menschen politischen Meinungsaustausch betreiben. Wen kann es wundern, dass sich in diesem Austausch dann auch all der widerliche Blödsinn abbildet, mit dem das Netz so aufwartet: Antisemitismus, Biologismen und Verschwörungstheorien aller Art. Bei all dem sind diese jungen Leute aber mehrheitlich vor allem von neoliberalem Gedankengut durchdrungen und halten das Medium Internet für eine irgendwie bessere Parallelwelt, weshalb sie dessen Mechanismen zu ihrer Ideologie gemacht haben. Letzteres ist vor allem infantil-absurd, ersteres qualifiziert sie zur Teilnahme an der überparteilichen Diktatur der „Mitte“, wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (da zahlen sich die Jahre als Pop-Beauftragter seiner Partei aus) als erster bemerkt hat und gleich ein Koalitionsangebot unterbreitete. Man kann diese Mixtur aus unreflektiertem Neoliberalismus und ins Religiöse driftender Internet-Affinität aber nicht den Piraten, man muss es den Zeitläuften (also den politischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen der letzten 20 Jahre) zur Last legen. Das gesellschaftliche Sein bestimmt eben tatsächlich das Bewusstsein.

So merken die Piraten dann auch nicht, dass sie mit ihrem Kampf gegen das Urheberrecht auf Kaperfahrt für die großen Internetkonzerne gehen. Selbst der offensichtliche Widerspruch, wenn sie einen relativ unprätentiösen Künstler wie Sven Regener als „reichen Sack“ beschimpfen und gleichzeitig kein Problem damit haben, dass ihr Raubzug gegen dessen geistiges Eigentum ganz widerlich reiche Säcke wie Kim Schmitz hervorbringt, fällt ihnen nicht negativ auf. Ebenso wenig merken sie, dass alle bislang vorgebrachten Ideen, wie man den Urhebern vielleicht doch noch etwas Entlohnung zukommen lassen könnte (101 Piraten haben ja kürzlich gemerkt, dass das wohl doch nötig ist **), ganz gleich ob man das Ergebnis dann Kulturwertmark oder Kulturflatrate nennt, entweder ihrem Anspruch auf Anonymität im Netz oder dem auf freien Netzzugang zuwiderlaufen. Weder merken sie, dass ihr Begehren nach kostenloser Kultur am Ende diese Kultur schwer beschädigen wird, noch, dass ihre Idee, für demokratische Abstimmungsvorgänge das Internet heranzuziehen, letztlich eine umfassende persönliche Registrierung voraussetzt, die einer totalen Überwachung des Netzes in die Hände spielt. Denn die virtuelle Welt des Netzes könnte nur dann freier sein als die uns umgebende Realität, wenn sie von dieser möglichst weitreichend entkoppelt bliebe. Aber dieser Zug ist längst abgefahren und das Internet ein so bedeutender Handelsplatz geworden, dass alle Kämpfe um die bereits jetzt nicht mehr denkbare Freiheit des Netzes nur Rückzugsgefechte sein können. Diese Tatsache sollte man sich bewusst machen, um nicht in blindem Aktionismus sinnvolle Infrastrukturen zu zerstören, wie etwa das Urheberrecht.

Offensichtliche Widersprüche dieser Art aber lassen die Piraten kalt. Es widerspricht ihrer auf Aktionismus und kindliches Lernen per Fehler und Neustart ausgerichteten Ideologie, Probleme theoretisch zu Ende zu denken. Ja, in den Netzkommentaren zum Urheberrechtsstreit offenbart sich sogar eine ausgesprochene Theoriefeindlichkeit, wenn da wohldurchdachten Argumenten ein tausendfaches „Trotzdem!“ entgegenschlägt. So wird es sicher noch eine Weile dauern, bis die Intelligenteren in der Partei etwa feststellen, dass Basisdemokratie zumindest ein ganz anderes gesellschaftliches Umfeld braucht, wenn man nicht plötzlich – beispielsweise nach einem reißerischen BILD-Artikel – gezwungen sein möchte, etwa die Todesstrafe für Kinderschänder zu fordern. Denn ob sich basisdemokratische Entscheidungen positiv oder negativ auf die Gesellschaft auswirken, hängt vom Zustand dieser Gesellschaft ab – vom Bildungsgrad und den allgemeinen Lebensumständen der Menschen. Nur weil die Masse etwas für richtig hält, muss es das nicht sein. Man braucht da gar nicht mit der Pogrom- oder Hexenverbrennungskeule zu kommen, es reicht, mal einen Blick in die basisdemokratisch verfasste Schweiz zu werfen. Dort wurde das Wahlrecht für Frauen auf Bundesebene erst 1971 eingeführt, im letzten Kanton sogar erst 1990 (!) Zum Vergleich: In der Türkei wählen Frauen seit 1930, und selbst im Iran schon seit 1963. Mein Vorschlag: Vielleicht einfach noch mal googeln, was für Probleme so eine Basisdemokratie machen kann und sich dazu Lösungen einfallen lassen – möglichst bevor (!) man sich mit seiner – nur scheinbar neuen – Idee zur Wahl stellt.

Genau das ist das Hauptproblem der Piraten: Ihre Geschichtslosigkeit. Es ist ihnen nicht bewusst, dass die immerhin partiell vorhandene Freiheit von Kunst und Wissenschaft, die mit dem Urheberrecht verknüpft ist, eine ebenso großartige wie historisch noch ziemlich junge Errungenschaft ist. „Dann müsst ihr eben mal richtig arbeiten gehen!“, brüllten die Piratenfreunde im Anti-Regener-Shitstorm massenhaft den Künstlern entgegen und merkten nicht einmal, dass sie dabei klangen wie ihre faschistischen Urgroßeltern. Spätestens an diesem Punkt wurde klar, dass es hier nicht „nur“ gegen das Urheberrecht geht. Derselbe Furor, mit dem die Piraten derzeit gegen Verwertungsgesellschaften im allgemeinen vorgehen (eigentlich kennen sie nur die GEMA, eine durchaus kritisch zu betrachtende Vertreterin dieses Systems), wird sich sicher schon bald gegen Gewerkschaften und andere sinnvolle Netzwerke richten. Warum? Weil das alles so behäbig und uncool aussieht und weil sie, die ewigen Praktikanten, die in prekären Arbeitsverhältnissen versuchen müssen mit virtueller Arbeit virtuelles Geld zu verdienen, von diesen Institutionen nicht oder nur unzureichend geschützt werden. Und so, wie die Geringverdiener in unserer Gesellschaft nach jahrzehntelanger neoliberaler Hirnwäsche inzwischen eher die Absenkung von HartzIV fordern als eine Lohnerhöhung für sich selbst, wollen die Piraten und ihre Internet-Klientel die eigene prekäre Existenz zum Maßstab für alle machen, statt mehr Schutz für sich selbst zu erkämpfen. Wo mal Arbeitsschutz war, soll es ein Grundeinkommen geben, das alle – in der realen Umsetzung wahrscheinlich weit unterhalb des HartzIV-Niveaus – irgendwie absichert, damit sie ihre Arbeitskraft frohgemut in einem gänzlich unregulierten Markt knapp über Nulltarif feilbieten können.

Solche Vorstellungen sind nicht neu, es gibt bereits eine Partei für sie, die heißt: FDP. Von dieser Partei unterscheiden sich die Piraten eigentlich nur über ihre Optik, die Überhöhung des Internets und ihr zweites Kernthema: „Transparenz“. Während die FDP der Inbegriff von Kungelrunden und einem mehr oder minder verschleierten Lobbyismus ist, wollen die Piraten alle Entscheidungswege offenlegen. Nein, nicht alle. Auch hier sind den stets zur „Mitte“ strebenden Piraten schon gewisse mögliche Problemfelder aufgefallen, deswegen schreiben sie: „Seine Schranken findet dieses Recht in den Bestimmungen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte, der nationalen Sicherheit, zur Verhinderung von Straftaten und ähnlichem.“ Abgesehen davon, dass Politik und Wirtschaft schon eine Menge „Ähnliches“ finden würde, wenn diese Transparenz Gesetz wäre, drückt sich in der Forderung der Piraten weniger ein ernsthaftes politisches Ansinnen aus, als vielmehr der kindliche Wunsch, alles zu wissen ohne für dieses Wissen Anstrengungen unternehmen zu müssen, klare „Infos“ serviert zu kriegen, statt sich mit Analysen abquälen zu müssen. Liest man nämlich regelmäßig verschiedene Zeitungen und das eine oder andere Buch, werden einem die meisten politischen Entscheidungen schon jetzt ziemlich transparent, ganz ohne Offenlegung von Billionen und Aberbillionen von Datensätzen. Im Ernst: Wer soll denn das alles lesen? Niemand wird das tun, niemand kann das tun. Ganz davon abgesehen, dass auch dieser gigantische Haufen Datenmüll erst mal interpretiert werden müsste, weil Schriftsprache kein Binärcode ist. Nein, eine solche Transparenz (so charmant auch dieser Ansatz scheinen mag) würde wahrscheinlich sogar das Gegenteil bewirken – im Bewusstsein, dass nun alles offen daliegt, würde keiner mehr richtig hinschauen. Transparenz als bloße Behauptung also, wie Freundschaft bei Facebook.

Kinder an die Macht“ sang Herbert Grönemeyer 1986 und ich war sicher nicht der einzige, der diese Vorstellung schon damals gruselig fand. Kinder können, wie man weiß, grausam sein. Sie sind irrational, unberechenbar und sprunghaft, haben weder Erfahrungen noch Wissen auf das sie zurückgreifen könnten, plappern den größten Unsinn nach, sperren sich mit Trotz gegen Vernunft und müssten als Machthaber daher zwangsläufig jeden Irrsinn den die Menschheit bereits durchlitten hat, noch einmal erfinden. Schön nachzulesen ist eine solche infernalische Situation zum Beispiel in William Goldings Roman „Herr der Fliegen“. Im romantisierenden Pathos Herbert Grönemeyers aber heißt es: „Sie sind die wahren Anarchisten / lieben das Chaos, räumen ab / kennen keine Rechte, keine Pflichten / ungebeugte Kraft, massenhaft / ungestümer Stolz“. Das klingt nicht nur wie der bereits zitierte „Piratenkodex“, das ist auch genau der Eindruck, den derzeit viele Wähler von den Piraten haben. Ein Eindruck, der sich bei den Älteren vielleicht mit der Sehnsucht nach der eigenen rebellischen Jugend, bei den Jüngeren mit dem Wunsch nach einem gesellschaftlichen Neustart verbindet. Aber die Rebellion, die hier stattfindet, erinnert eher an ein unreflektiertes Aufbäumen mit katastrophalem Ausgang, wie etwa im James Dean-Klassiker „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Und einen Neustart könnte es nur geben, wenn man bereit wäre, die Systemfrage zu stellen. Dass die Piraten dazu nicht bereit sind, beruhigt mich persönlich sehr, da ich mir wahrlich nicht vorstellen möchte, als vom Schwarm ferngesteuerte Drohne in einem digital-faschistischen Insektenstaat zu leben. Die Enttäuschung derer aber, die sich von den Piraten grundlegende Veränderungen erhoffen, muss somit zwangsläufig auf dem Fuße folgen, und hat beim einen oder anderen sicher schon eingesetzt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es die Piraten in 10 Jahren noch gibt, ist gering. Am Ende wird diese Partei aber nicht an organisatorischen Schwierigkeiten oder geistigen Aussetzern einzelner Führungspersönlichkeiten scheitern, sondern schlichtweg an fehlender politischer Substanz im lauten Surren des ganzen Schwarms. Die Frage ist eigentlich nur, wie lange die Piraten ihre hohen Umfragewerte halten können und wie viel gesellschaftliches Porzellan beim Toben der Kinder zu Bruch geht – oder besser: beim Versuch der etablierten Parteien, dem Toben der Kinder entgegenzukommen. Hoffentlich wird man also, wenn der Spuk vorbei ist, wie Kapitän Jack Sparrow in „Fluch der Karibik“, noch schmunzelnd konstatieren können: „Also, ich finde das alles sehr hübsch. Wir sind doch schließlich alle irgendwie weitergekommen. Spirituell, dramatisch, menschlich.“

Was nun aber den eingangs erwähnten Zustand einer Gesellschaft angeht, in der ein virtuelles Konstrukt wie die Piratenpartei zu einem realen Machtfaktor werden kann, kann man wohl gar nicht schwarz genug sehen. Allerdings hätte es für diese Erkenntnis auch wieder keine neue Partei gebraucht. Die schon vorhandene intellektuelle Krabbelgruppe, von Emanzipationsverächterin und Extremismussirene Kristina Schröder (CDU) über Kuscheltiersammlerin Andrea Nahles (SPD) bis hin zum ultimativen Klassendeppen Philipp Rößler (FDP)***, wäre wirklich Beleg genug gewesen. Auch als Qualitätstest für Kommentatoren hätte es die Piraten nicht gebraucht. Um bei den drei eingangs erwähnten zu bleiben: Dass Stefan Kuzmany ein vermutlich ganz angenehmer Zeitgenosse mit satirischen Neigungen ist, ist mir spätestens seit seinem Kommentar zum Einheitsdenkmal klar. Jakob Augstein hat sich schon mit Papst-Hymnen und Grass-Verteidigung ausreichend disqualifiziert. Und Georg Fülberth wartet seit Jahren so angenehm tiefenentspannt auf das Ende des Kapitalismus, dass man sich am liebsten mit einem guten Cognak zu ihm setzen würde, aber dafür bin ich wohl einfach noch nicht alt genug. Dass der Zeitgeist ein lächerlicher ist, macht ihn nicht weniger bedrohlich für jene, die noch ein paar Jahrzehnte unter seiner Knute werden leben müssen. Mag der Angriff der Piraten auch bald überstanden sein, ihre Klientel wird bleiben und wachsen.

Markus Liske

* Würde die Antwort gern richtig zitieren. Habe die Sendung, in die ich da nachts zufällig reinzappte, aber im Netz nicht gefunden.

** Eine ganze Reihe dieser widersprüchlichen Wortmeldungen der 101 konfusen Piraten wurde kürzlich sehr amüsant von Volker Strübing kommentiert. Ich selbst bin, aus Angst vor bleibenden Schäden, schon nach 10 Piratenstimmen ausgestiegen …

*** CSU, Grüne und Linke mögen mir verzeihen, dass sie in dieser Aufzählung keine Erwähnung finden. Ist nur dem Satzrhythmus geschuldet. Passende Kandidaten gäbe es auch bei ihnen genug.