Aus dem Archiv gefischt (3): All lost in the Jugendkultur

Von Künstlern und Anarchisten

(aus: “Schritt für Schritt ins Paradies – Handbuch zur Freiheit”, hg. von Karsten Krampitz & Klaus Lederer, Karin Kramer Verlag Berlin)

„An anarchist is not a wild child, but a mature, realistic adult imposing laws upon the self and modifying them according to an experience of life, an interpretation of the world.“ Michael Moorcock

Da steht er, der Anarchist. Steht schwankend auf der Querverstrebung eines Barhockers, den Schmerbauch vorgestreckt, die rechte Hand auf der Sitzfläche, die linke überm Kopf zur Faust geballt. „Isch rufe euch ssur direktn Akssion!“, brüllt er und verliert dabei fast das Gleichgewicht. Die revolutionäre Masse vor ihm – zwanzig oder dreißig schwarzgekleidete junge Männer – johlt und klatscht. Die Szene ist mir unvergesslich.

Erich Mühsam Fest 2003 im Stadtbad Oderberger Straße in Berlin. Draußen dämmert es bereits. Die Betreiber der Bücherstände beginnen mit dem Abbau, das Live-Programm auf drei von vier Bühnen ist beendet, doch noch immer schieben sich ein paar hundert Menschen durch die schmalen Gänge. Plötzlich stürmt eine panische Hanna auf mich zu. Sie gehört zu einem Dreierteam sehr junger Pazifistinnen, das den Getränkeverkauf betreut. Alle drei haben keine Ahnung vom Anarchismus oder gar von Mühsam, sie sind uns in der Vorbereitungsphase zugelaufen, weil im Irak gerade Krieg tobt und wir deshalb den Antimilitarismus Mühsams in den Mittelpunkt dieses Festes gestellt haben. „Komm schnell, Markus!“, ruft sie. „Da wollen welche die Bar stürmen!“

Ich beruhige sie kurz, dann eilen wir gemeinsam zum Ort des Geschehens. Das erste was ich über die Köpfe erkennen kann, sind ihre beiden Kolleginnen. Sie haben sämtliche Bierkästen vom Tresen zurückgezogen und sich, mit leeren Flaschen bewaffnet, breitbeinig davor aufgebaut. „Tapfere Friedenstauben“, denke ich noch, da bin ich schon um die Gangkehre und sehe den dicken Anarchisten auf seinem Barhocker balancieren. Es ist mal wieder der Obermufti des Berliner Kultursyndikats der FAU. Beim letzten Fest pisste er um diese Uhrzeit noch fröhlich in die Gänge, diesmal scheint ihm das Geld für Bier ausgegangen zu sein.

„Een Euro fufftsch für’n kleins Becks!“, brüllt er. „Dassis Kapitalismus! Dis lassn wir uns nisch bietn!“ Und die halbe anwesende FAU folgt gebannt seiner Rede, selbst der DJ hat Pause gemacht.
Ich weiß, was ich jetzt tun muss, aber eine Stimme in meinem Kopf sagt: „Markus, du bist langsam zu alt für so was …“

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Immer wieder musste ich ihn hören, wenn ich als Jugendlicher mit meinem Vater diskutierte, diesen schrecklichen Satz: „Wer mit sechzehn kein Anarchist ist, hat kein Herz. Wer es mit dreißig immer noch ist, hat keinen Verstand.“ Mein Vater hielt das für ein Zitat von Churchill, aber dieser hatte von Sozialisten gesprochen und seine Altersangaben waren zwanzig und vierzig. Auch war er nicht der erste, der sich dieser Phrase bediente. Bertrand Russell hatte sie für Kommunisten verwendet, George Bernhard Shaw und Theodor Fontane für Revolutionäre im Allgemeinen, und es würde mich wenig wundern, wenn sie sich schon in spätrömischen Quellen mit Bezug auf die letzten Anhänger der Republik fände.
Auf Anarchisten bezogen hat sie der frühere französische Premierminister Georges Clemenceau, dem man zugute halten kann, dass er 1919 von einem Anarchisten angeschossen wurde und diesen anschließend begnadigen ließ. Außerdem lautete seine Formulierung: „Wer mit sechzehn nicht Anarchist ist, ist ein Idiot. Aber wer es mit 40 noch ist, ist es auch.“ Damit ist er der einzige der genannten Autoren, der dem jugendlichen Aufbegehren nicht Herz sondern Verstand attestierte, also nicht nur romantische Schwärmerei sondern Erkenntnis.

Mein eigener jugendlicher Anarchismus war da – zugegeben – eher eine Mischform. Ich war gegen Krieg, Religion, Kapitalismus und Nationalismus (außer beim Fußball), fühlte mich von Schule und Staat in meiner individuellen Entfaltung beschnitten und konnte mir zu Recht nicht vorstellen, dass das in einem tristen Kunstlederhütchen-Sozialismus à la DDR besser wäre. Insofern lief meines Vaters zweitliebste Phrase bei mir ins Leere: „Dann geh doch nach drüben!“

Auf den Anarchismus hatte mich weder Stirner noch Bakunin, Mühsam, Rocker oder einer der anderen üblichen Verdächtigen gebracht. Es war der britische Science-Fiction-Autor Michael Moorcock, damals ein relativ prominenter Vertreter seiner Zunft und bekennender Anarchist. Dieser hatte in den späten sechziger Jahren ein Avantgarde-Magazin namens „New Worlds“ herausgegeben, in dem SF-Geschichten erschienen, die unter Drogeneinfluss entstanden waren, hemmungslos Sprachzersplitterung betrieben oder bizarre distopische Bilder pervertierter Massengesellschaften entwarfen. Zu den Stammautoren gehörten Leute wie James-Graham Ballard oder Norman Spinrad, und die las ich allabendlich auf meinem Ikea-Bett unterm Reihenhausdach meiner Eltern im beschaulichen Wiesbaden. Dazu dröhnte die “Never mind the Bollocks” von den Sex Pistols. Zwar ging ich zuweilen auf Demos, hatte aber weder eine schwarze Lederjacke noch bunte Haare oder das damals weitverbreitete Palituch. Nicht mal einen schwarz-roten Anstecker besaß ich.

Mein Zugang zum Anarchismus war die Kunst. Dabei hatte ich Namen wie Guy Debord oder Isidor Isou nie gehört. Ich wusste nichts von Lettristen oder Situationisten und schon gar nicht, dass von diesen eine direkte Spur über Malcolm McLaren zum Great Rock’n’Roll Swindle der Sex Pistols führte. Aber ich spürte, dass es mehr als Musik und auch mehr als jugendliches Aufbegehren war, wenn Johnny Rotten aus den Boxen schrie: „I am an Antichrist, I am an Anarchist …“ Das hatte wenig gemeinsam mit den Parolengesängen von Slime oder Ton Steine Scherben, die auf den Demos abgefeiert wurden. Rein gefühlsmäßig ordnete ich die Sex Pistols schon damals eher dem DADA-Universum zu, das mir ausgerechnet in der ach so verhassten Schule von einem ambitionierten Kunstlehrer eröffnet worden war. DADA war eines seiner beiden Steckenpferde, das andere war Joseph Beuys, insbesondere dessen These, dass jeder Mensch ein Künstler sei.

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Irgendwann erwischt es einen doch. Bei mir war es im Zuge der diversen Uni-Streiks während meiner ersten Semester in Berlin. Zwar fand ich Rio Reisers manische Paradiesbeschwörung immer noch lächerlich (insbesondere die Vorstellung, auch Löwe und Lamm lägen in einer befreiten Welt Grünzeug mümmelnd nebeneinander), aber auch ich grölte jetzt auf Demos die Parolen mit, trug komische Frisuren, Lederjacke und schwarzen Stern und kam mir „höchst gefährlich vor“, wie der Revoluzzer in Mühsams gleichnamigen Gedicht. Ich erinnere mich noch gut, dass ich sogar stolz war, als mich mein Bekannter Basti Weihnachten 1990 in seinen anarchistischen Diskussionskreis einführte. Basti war etwas älter als ich, trug selbstgestrickte Pullis in schwarz-rot und hatte zwei kleine Töchter, die – natürlich – Marie-Johanna und Anna-Sheila hießen. Für sie hatte er sogar einen Weihnachtsbaum organisiert, den er mit Bildern vollbärtiger Männer, Hanfpostkarten und schwarz-roten Sternen schmückte, während er mich für meine „verspätete Politisierung“ lobte.

Rückblickend würde ich es eher als einen verspäteten Eintritt in die Jugendkultur bezeichnen. Die Gespräche in Bastis Kreis drehten sich vor allem um die Symbolik verschiedener Aufkleber und Anstecker, um Hardcore-Bands und Straßenkampf-Selbsterfahrungsberichte in handkopierten Fanzines, die lustigerweise immer mit Siegesmeldungen endeten, was meinen eigenen Demo-Erfahrungen deutlich widersprach. Nach der fünften Flasche Rotwein wurde dann auf den wenigen historischen Kurzzeiterfolgen rumgeritten: Ukraine in den Zwanzigern, Spanien in den Dreißigern und natürlich Erich Mühsams Bayrische Räterepublik. Da ich nicht auf Landkommunen stehe, wurde letzteres mein Steckenpferd, und es ist erstaunlich, wie viele Bücher man über einen einmonatigen Revolutionsversuch lesen kann, der zudem vom denkbar unwürdigsten Gegner beendet wurde – der SPD. Immerhin las ich in dieser Zeit auch Rocker, Stirner und Konsorten, lernte allerlei Drogen und alternative Beziehungskonzepte kennen und machte die wichtige Erfahrung, dass man stundenlang „Hoch die internationale Solidarität!“ brüllen kann – der Frauenblock hakt so einen Schwanzträger trotzdem nicht unter, ganz gleich, wie viele Bullen hinter einem her sind.

Meine eigenen Versuche, kulturelles Engagement in den Vordergrund zu rücken, scheiterten kläglich. Vielleicht muss man da einfach durch. Vielleicht muss man am eigenen Leibe lernen, dass es sinnlos ist, einem Publikum Texte vorzutragen, das immer zu einem guten Teil aus besoffenen Punks, antiautoritär verzogenen Blagen und halbwilden Kötern besteht, dass von jenen, die doch zuhören, jeder Text affektiv auf politisch korrekte Wortwahl abgeklopft wird und, dass „gegenderte“ Lyrik (wenn man sich darauf einlässt) so scheiße klingt, wie sie aussieht.

Es war die Lektüre von Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“ die mich 1993 endlich wieder aus dem jugendkulturellen Sumpf zog, mir das Tor öffnete zu Lettristen und Situationisten und damit zu einem künstlerisch agierenden Anarchismus, dessen Freiheit nicht zuletzt auch eine Freiheit von formalen Zwängen (laute E-Gitarren) und plakativer Symbolik (schwarz-rote Sterne, Fahnen oder Klobürsten) bedeutet. Mag derlei auch geeignet sein, in einer stark männlich und heterosexuell dominierten Jugendkultur das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern, mit Anarchismus hat es so wenig zu tun, wie die vorherrschende Optik linksradikaler Gastronomie: versiffte Klos (in denen man trotzdem zum Sitzpinkeln aufgefordert wird), nach nassem Hund stinkende Sofas, Bierpfützen und Eddinggekrakel. Was da Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen oder alternative Gemütlichkeit suggerieren soll, ist am Ende nur Ausdruck adoleszenter Rebellion gegen die eigene meist bürgerliche Herkunft. Mit gelebter Gegenkultur hat es wenig zu tun.

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Für die Situationisten war subversive Kunst grundsätzlich an Gegenkultur gebunden. Es verstand sich für sie von selbst, etwa Kontakte zur bürgerlichen Presse (und deren Verbreitungsmöglichkeiten) zu meiden. Auch die Perspektive, mit Kunst Geld zu verdienen, wurde von ihnen kategorisch verneint. Sie betrieben statt dessen „Potlatsch“.

Der Begriff verweist auf ein zutiefst antikapitalistisches Ritual der Chinook-Indianer. Hierbei werden (meist ausgelöst von einer Erbschaft) Geschenke mit immer größeren Geschenken beantwortet, was nicht nur die Anhäufung von Reichtum in den Händen einzelner verhindert, sondern im Extremfall bis zum Abbrennen des eigenen Dorfes fortgesetzt wird.

Diese Idee und eine kleine Erbschaft meiner Großmutter wiesen mir den Weg zurück in die eigene künstlerische Produktion. Den Rest der neunziger Jahre verbrachte ich damit, nach dem Potlatsch-Prinzip komplexe anarchische Kunst-Happenings zu inszenieren, mit Musikdarbietungen jenseits von Melodie und Rhythmus, skurrilen Ready Made-Installationen und Lese-Ritualen, die an Selbstverbrennung grenzten. Leider war die Erbschaft irgendwann verbraucht und der Potlatsch somit vollzogen. Als französischer Situationist hätte ich mir nun wohl einen Mäzen gesucht und das nächste Projekt geplant. Im Paris der fünfziger und sechziger Jahre muss es von reichen Anarchisten mit gegenkulturellem Kunstverstand nur so gewimmelt haben. Nicht so im Berlin der Jahrtausendwende. Gegenkultur existiert hier (damals wie heute) nur als chronisch unterfinanzierte und schlecht organisierte Jugendkultur, bei der die honorarfreien Auftritte wütender junger Hobby-Musiker vor allem als Anlass zum gemeinsam Biertrinken dienen. Weshalb dem Bier auch – im Gegensatz zur künstlerischen Darbietung – ein Geldwert zuerkannt wird. Kein Wunder, dass eine derart entwertende Darreichungsform von Kunst – insbesondere im Vergleich mit der bizarr übertechnisierten und durchgestylten Massenkultur – gerade progressiven Jugendlichen zunehmend „uncool“ erscheint und die anarchistische Jugendkultur daher inzwischen mehrheitlich von Berufsjugendlichen um die dreißig betrieben wird.

In einem aber sind sich Massenkultur und Gegenkultur heutzutage erstaunlich einig, darin nämlich, dass Kultur den Rezipienten kein Geld kosten sollte, obgleich doch gerade in der anteiligen Finanzierung durch die Rezipienten die einzige Chance besteht, den fehlenden Mäzen zu ersetzen. Spätestens mit dem Unwesen des alles schnell und gratis Herunterladens (das ganz nebenbei auch den ideellen Wert des sich so angeeigneten Kunstwerks negiert) ist der allgemeine Anspruch entstanden, künstlerische Arbeit auch außerhalb der gegenkulturellen Sphäre von jeglichem Lohnanspruch zu entkoppeln, während gleichzeitig die künstlerische Produktion immer mehr Eigenkapital verlangt. Das Ergebnis ist eine Kultur, die im breitenwirksamen Maßstab nur noch über die Anbindung an Kapitalinteressen großer Konzerne möglich ist. Im kleineren Maßstab bedeutet das, dass Kunst inzwischen mehrheitlich von Kindern reicher Eltern produziert wird oder auf Hobby-Basis von Menschen, die ihre Arbeitskraft dem Kapitalismus auf anderer Ebene zur Verfügung stellen. Mit den „Piraten“ ist sogar eine Partei entstanden, die sich die gezielte Entwertung von Kultur auf die Fahne geschrieben hat. Dass diese Fahne zudem schwarz ist, kann man dem Anarchismus zwar nicht anlasten, aber die Idee der Abschaffung des Urheberrechts geht tatsächlich auf Guy Debord zurück, der – wie beschrieben – das Glück hatte, aus einer (auch finanziell) vitalen Gegenkultur heraus operieren zu können. Und zur heute allgemein grandios fehlverstandenen These, dass wir zwar nicht alle Physiker, Ärzte oder Piloten aber doch alle Künstler sind, bemerkte unlängst ein befreundeter Musiker zutreffend: „Wer hätte gedacht, dass uns der Beuys noch mal so auf die Füße fällt.“

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Im Gegensatz zur Unterhaltungsindustrie, die den Sektor Kunst zunehmend ersetzt, ist progressive Kunst per se anarchistisch, weil sie immer auch darauf beruht, Regeln zu brechen oder wenigstens zu hinterfragen. Inhaltliche und formale Experimente und die damit stets aufs Neue erkämpfte Unberechenbarkeit gehören zu ihrem Wesenskern. Insofern steckt tatsächlich – unabhängig von politischer Gesinnung – in jedem Künstler ein Anarchist. Im Rahmen einer potenten Gegenkultur mit unabhängigen Verlagen, Plattenlabels etc., wie sie hierzulande noch in den siebziger und achtziger Jahren existierte, kann sich dieser Wesenskern auch deutlicher offenbaren. Unter dem Diktat des Marktes führt er zwangsläufig ein Schattendasein.

Zwar gibt es noch immer Verlage oder Labels, die unter dem Signet „Independend“ geführt werden, in den allermeisten Fällen bedeutet das aber nur noch, dass sie kleiner sind als die „Majors“. Die Programme dagegen haben sich angeglichen. Wie auf allen anderen Gebieten fördert der freie Markt auch kulturell nicht etwa Vielfalt, sondern eine periodisch wechselnden Moden folgende Gleichschaltung. Wer darin künstlerisch überleben will, muss eine Anpassungsleistung vollbringen, die auf Selbstzensur hinausläuft. Einzige Alternative dazu ist das institutionelle Stipendiensystem, das zwar formal größeren Spielraum lässt, den Künstler dafür aber zu einem Nomadendasein auf HartzIV-Niveau verdammt.

Nun ist es durchaus einsichtig, dass der moderne Kapitalismus wenig Interesse an einem anarchischen Kunst-Sektor hat und, dass er daher mit seinem spezifischen Mittel der Einbindung oder Ausgrenzung über materielle Abhängigkeiten vernichtenden Einfluss nimmt. Auch erstaunt es wenig, dass sich eine in den letzten zwanzig Jahren zunehmend wirtschaftsliberal dominierte Jugendkultur vor diesen Karren spannen lässt. Dass aber der Künstler und seine Produktionsbedingungen ausgerechnet den Anarchisten gemeinhin komplett am Arsch vorbei gehen, ist so absurd, wie eine kommunistische Bewegung, die sich nicht für das Proletariat interessiert, oder ein sich selbst regulierender Kapitalismus.

Sowohl in der Bayrischen Räterepublik als auch in der 68er Revolte waren Künstler und Intellektuelle das wortgewaltige Sprachrohr und die Zeichen setzende Kraft in die sogenannte Mehrheitsgesellschaft hinein. Heute dagegen erscheint der Anarchismus zunehmend als sozialpädagogisches Jugendprojekt oder weltabgewandtes Ringen um ein (bekanntermaßen unerreichbares) richtiges Leben im falschen. Und auch wenn sich etwa die Direkte Aktion zuletzt pro Urheberrecht positionierte: Im anarchistischen Spektrum wird vom Künstler – genau wie in der bürgerlich-kapitalistischen Mehrheitsgesellschaft – vor allem Unterhaltung, bestenfalls politische Bestätigung erwartet, mit dem Unterschied allerdings, dass es „natürlich“ kein Geld dafür gibt. Ich persönlich lege inzwischen meist wortlos auf, wenn diese Phrase aus dem Telefonhörer kommt, denn Potlatsch ist ein Ritual des Schenkens und Geschenke kann man nicht einfordern.

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Als Manja Präkels 2001 das Erich Mühsam Fest ins Leben rief, war das ein Potlatsch aus ihren persönlichen Ersparnissen und der Arbeitskraft von neun oder zehn jungen Anarchisten. Obwohl auch solche Dinge ihren Platz hatten, standen weder das Pogotanzen zu Punk-Musik noch stundenlanges Vorlesen von Mühsam-Texten im Zentrum des Festes. Alles in allem erinnerte mich die Mischung aus schrägen Lesungen und Installationen mehr an meine eigenen Kunst-Happenings in den Neunzigern. Ich war entsprechend begeistert und sofort bereit, mich für eine Wiederholung im nächsten Jahr zu engagieren. Um dieses nächste Fest nicht in einem finanziellen Bankrott der kompletten Vorbereitungsgruppe enden zu lassen, berechneten wir einen minimalen Eintrittspreis von 5 und 3 Euro, der sowohl unsere Unkosten, als auch die der circa vierzig beteiligten Künstler decken sollte. Fast hätte es geklappt.

Dummerweise erzeugte der Anblick von knapp 700 zahlenden Gästen gepaart mit völliger Unkenntnis der Kosten für Gelände, Beschallungstechnik, Stromgeneratoren etc. bei einigen schlichten Gemütern das Gefühl, wir würden uns an der Sache bereichern. So kam es, dass gleich zwei beteiligte Gruppen meinten, sich im Gegenzug an uns bereichern zu dürfen. Eine Anarcho-Combo aus der Karower Wagenburg entwendete mehrere unversicherte Kunstwerke, und eine, für ihre Ton Steine Scherben-Cover damals recht bekannte, Band aus Oranienburg gleich ein komplettes Technik-Rack im Wert von knapp tausend Euro. „Scheiß Kapitalisten!“, schrien sie noch, als sie damit davonfuhren, und als wir eine Woche später mit außergerichtlichem Druck die Rückgabe erzwangen, zerschlugen sie die Geräte vorher. Ob sie dabei „Schritt für Schritt ins Paradies“ oder „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ sangen, weiß ich nicht. Wir jedenfalls hatten für unser Engagement diesmal nicht nur Schulden erhalten, die dazu führten, dass wir beim nächsten Fest Versicherungen für Technik und Kunstwerke abschlossen und dafür den Bierpreis von 1,20 € auf 1,50 € anheben mussten. Nein, wir standen nun auch noch unter dem Verdacht der Bereicherung, den das Erich Mühsam Fest in den folgenden Jahren nicht mehr los werden sollte und der nicht unwesentlich dazu beitrug, dass wir das Projekt schließlich einstellten.

Ein weiterer Grund war das beständige Schrumpfen unserer Organisationsgruppe. Da weder wir noch die meisten der beteiligten Künstler in einer der gängigen Polit-Sekten organisiert waren, hielten uns schon bald all diese Sekten für politisch fragwürdig. Und obgleich wir uns als offene Gruppe verstanden und unsere Treffen sogar in den Szene-Blättern inserierten, hatten wir schließlich zu wenige Helfer, um das gleichzeitig enorm gewachsene Fest noch stemmen zu können. So endete das Erich Mühsam Fest, nachdem es 2004 endlich zu dem gegenkulturellen Podium geworden war, das uns vorgeschwebt hatte: zu einem dreitägigen Festival mit über hundert Künstlern auf sechs Bühnen, ohne formale oder inhaltliche Vorgaben, außer der, sich im Geiste Erich Mühsams zu versammeln. Was blieb, war die Erkenntnis, dass das aus der feministischen Diskussion bekannte Bild vom Krabbenkorb, der keinen Deckel braucht, weil die Krabben selbst dafür sorgen, dass keine über den Rand kommt, auch auf gegenkulturelle Zusammenhänge anwendbar ist.

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Es war jene eingangs erwähnte Szene vom vorletzten Erich Mühsam Fest im Stadtbad Oderberger Straße, in der sich der anarchistische Krabbenkorb für mich offenbarte. Dem Obermufti des Kultursyndikats auf seinem Barhocker mag man einiges vorwerfen können, seine Obermufti-Rolle gehört, meiner Ansicht nach, nicht dazu. Alle Gruppen bringen Hierarchien hervor, auch jene die sich explizit gegen Hierarchien wenden. Es gibt immer jemanden, der vielleicht einfach besser reden kann, als die anderen, oder regelmäßig die besseren Argumente hat. Auf den hört die Gruppe dann schon gewohnheitsmäßig. Gleichzeitig erwächst dieser Person daraus die Verpflichtung, in kritischen Momenten Sprachrohr der Gruppeninteressen zu werden. Insofern konnte der Obermufti an jenem Abend im Stadtbad Oderberger Straße vielleicht gar nicht anders, als auf diesen Barhocker zu klettern und die versammelten Anarcho-Krabben zur direkten Aktion gegen unsere Bar aufzurufen. Ich aber war nun mal der organisatorische Obermufti dieses Erich Mühsam Festes. Meine Verpflichtung war es, ihn von diesem Barhocker herunter zu kriegen. Also lachte ich lautstark, um die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, klopfte ihm von hinten so kräftig auf die Schulter, dass er bös ins Schwanken kam und sagte: „Na Genosse, wat is’ los? Kannste dir keen Bier mehr leisten? Hier, ick hab noch ‘n paar Freimarken. Aber schön mit den anderen teilen, ja? Nicht, dass wir dich am Ende noch raustragen müssen …“

Verwirrt betrachtete er die Marken in seiner Hand. Die Umstehenden lachten, ich ging zum DJ und bat ihn, eine tanzbare Version von „A las barricadas“ aufzulegen. Dann tanzte ich eine Runde mit den versammelten FAUlern, während unsere drei Barfrauen ihre Arbeit wieder aufnahmen. Ja, ich johlte sogar die Schlussstrophe mit und streckte meine Faust in die Luft, wie früher in Bastis Diskussionskreis, nach der achten Flasche Rotwein. Ganz gleich was Clemenceau und die anderen gesagt haben, dachte ich bei mir. Dem Anarchismus kann man als Künstler nie ganz entwachsen, aber die politisch getarnte Vereinsmeierei schwarz-roter Jugendkultur sollte man beizeiten hinter sich lassen. In ihr liegt nur Beschränkung, keine Freiheit.

Markus Liske

Nachtrag: Aufgrund dieses 2013 erschienen Textes wurden wir von verschiedenen Seiten gedrängt, uns 2014 abermals in das Abenteuer eines Erich Mühsam Festes zu stürzen. Dieses fand mit rund 120 Künstlern auf 5 Bühnen im Zukunft/Ostkreuz statt. Schon beim Nachfolgefestival 2015 allerdings kam es zu ähnlichen Problemen wie den hier beschriebenen. Das vorerst letzte Erich Mühsam Fest fand – in kleinerem Rahmen – 2018 statt.