Nicht jedem Dichter ist es vergönnt, ein bedeutendes Alterswerk zu Papier zu bringen. Manche sterben zu früh an Leberzirrhose oder Lungenödem, andere verlieren ihre Ecken und Kanten, werden altersmilde und langweilig. Auch dem BILD-Kolumnisten Franz Josef Wagner schien dieses Schicksal zu drohen. Immer öfter war der Großmeister des anarchisch-entgrenzten Boulevard-Poems in den letzten Jahren von seinem Dichterthron herabgestiegen, um mit tagespolitischen Redundanzen in die Öffentlichkeit zu treten, die zunehmend von jenem grünliberalen Mainstream-Moralismus getragen wurden, den er einst so verachtete. Mal warf er Friedrich Merz vor, der AfD nach dem Munde zu reden, mal verteidigte er Markus Söders bildungsferne Tochter gegen ableistischen Spott oder erging sich anlässlich von Jeff Bezos Hochzeit in Venedig gar in tastender Kapitalismuskritik: „Mich würde interessieren, worüber die Superreichen reden. Was feiern die alles weg? Die Gier nach Jugend? Die Furcht vor dem Tod? Was für eine Sprache sprechen sie? Wie glücklich ist das Lachen der viel zu gebräunten Frauen?“
Aber immer wieder gab es auch Sätze, die Hoffnung machten, Franz Josef Wagner könne vielleicht doch noch mal die alte Größe erreichen. Sätze wie: „Schauen wir uns den Frühling an mit seinen Blumen. Was für ein schöner falscher Mörder.“ Oder: „Das Baby ist die Hoffnung nach dem Beben.“ Und hatte es nicht schon in den 2010er Jahren manchmal gewirkt, als knabbere er nur noch sein Gnadenbrot irgendwo in den dunklen Kellerräumen des Axel-Springer-Hauses? Bis er dann plötzlich mit alter Sprachgewalt zurück in die literarische Welt drängte: „Liebe Absturzopfer, das Gepäckband in der Ankunftshalle, das Eure Koffer bringen soll, bewegt sich nicht.“ – Mit diesem Satz, so mächtig, wie der Aufschlag eines Passagierflugzeuges an einem Alpenhang, begann am 24. März 2015 ein Wagner-Gedicht, wie es lange keins mehr gegeben hatte. Ein Gedicht, das sicher dankenswerter Weise viele junge Möchtegernlyriker von der Sinnlosigkeit ihrer Bestrebungen überzeugte. Hier passte wirklich alles. „Die Koffer und die Toten liegen verstreut in den französischen Alpen“, fuhr Wagner in kalter Präzision fort, um den Lesern dann mit wenigen zwischen Fühligkeit und Brutalität schlingernden Kurzsätzen zurück in die Wolken eigener Sehnsüchte zu katapultieren: „Ich hoffe, sie waren glücklich, bevor sie starben. Nette Stewardessen …“ Welche Welt tat sich da auf hinter diesen letzten drei Punkten! Keine Frage, dieser Dichter war noch nicht bereit, abzutreten und sein lyrisches Erbe von epigonalen Emporkömmlingen wie Ulf Poschardt verwesen zu lassen. Nein, hier arbeitete ein alternder Dichter, der erst als reifer Mann und nach vielen Umwegen zu seiner spezifischen Form gefunden hatte, offensichtlich an einem Spätwerk, wie die Welt zuvor noch keines gesehen hatte.
Als F. J. Wagner im August 1943 im schönen Protektorat Böhmen und Mähren geboren wurde, hatte er denkbar schlechte Voraussetzungen, um eines Tages die deutsche Lyrik zu revolutionieren. Die Rote Armee stand bereits ante portas, als der Zweijährige von seiner Mutter gerade noch rechtzeitig nach Regensburg verbracht wurde. Wagner: „Irgendwann wurde unser Treck beschossen. (…) Als wir uns am nächsten Morgen rauswagten, waren alle Männer tot. Nur die Frauen und Kinder lebten. Entweder hatten die Schützen Mitleid, oder wir hatten Glück.“ Es könnte allerdings auch Mitleid des Weltgeistes mit der deutschen Nachkriegsliteratur gewesen sein, was an jenem Tag die Kugeln lenkte. Denn man stelle sich nur vor, diese hätte sich ohne Wagners transzendentale Sprachgewalt entwickeln müssen und wäre fortan der mutlosen Phrasenhaftigkeit der Walsers und Grassens schutzlos ausgeliefert gewesen – um wie viel ärmer wären wir heute!
Dem Tod knapp entronnen, lernte der kleine Franz Josef in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren erst Frösche aufblasen (vermutlich), dann exzessiv onanieren (wahrscheinlich) und noch exzessiver saufen und rauchen (gesichert) – frühe existentielle Welterfahrungen, die der noch unfertige Poet mit ein paar vielleicht zu Unrecht vergessenen Abenteuerromanen voller echter Kerle und heißer Weiber sublimierte, bevor ihm klar wurde, dass sich mit Frösche aufblasen, onanieren und saufen im richtigen Metier auch gänzlich unsublimiert Geld verdienen lässt. In den Folgejahren trieb er daher als Chefredakteur mehrere Boulevardblätter, die es sicher verdient hatten, in den Ruin oder wenigstens an dessen Rand und schien darin lange Zeit seine Bestimmung gefunden zu haben. Nur selten blitzte sein lyrisches Genie auf, in neoexpressionistischen Kürzestgedichten wie diesem aus der Super Illu: „Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen!! / Ganz Bernau ist glücklich, dass er tot ist“.
Fast sechzig Jahre alt musste Wagner werden, um mit Beginn des neuen Jahrtausends den ernsthaften Großdichter in sich zu entdecken und ihn dorthin zu tragen, wo echte Poesie noch wertgeschätzt wird, zur BILD-Zeitung. In dieser publizierte er fortan beinahe täglich seine oft verstörenden Mixturen aus Prosagedicht und minimalisiertem Briefroman, die nicht nur durch syntaktische Freiheitsliebe und exorbitante semantische Ambivalenz überzeugen, sondern als wahre Monumente unverfälschter Menschenliebe und christlichen Mitgefühls einzigartig in der europäischen Literaturgeschichte stehen. Unvergessen etwa jene Zeilen, die er 2007 an den mutmaßlichen Vergewaltiger Marco W. in seiner türkischen Zelle richtete: „Du hast ein Mädchen geküsst, das Du unter der Sonne von Antalya, Türkei, kennen gelernt hast. (…) An einem Kuss ist nichts Abscheuliches – abscheulich sind die 5, 10 Sekunden danach, wo Du als Junge deinen Verstand verlierst, dem Mädchen etwas antust, was sie will und nicht will. (…) Du bist der erste Junge, der im Gefängnis sitzt, weil er die Frauen nicht versteht. Wenn sie ja sagen, meinen sie nein. Und wenn sie nein sagen, meinen sie ja. Das, mein Lieber, kannst Du mit 17 nicht wissen – das kannst Du erst wissen, wenn Du so alt bist wie ich.“
Mag auch der Anlass dieses Schrift gewordenen Musenblowjobs dem tagesaktuellen Zufall geschuldet sein, die Grundthematik ist es sicher nicht, sind doch Frauen in dieser Phase ein steter Quell wagnerscher Inspiration. „Mon Amour. Vive la France, Vive le Hintern von Carla Bruni“, schrieb er beispielsweise an die damalige französische Präsidentengattin gerichtet sowie (an anderer Stelle): „Ich bekenne mich zur Erbsünde des Rauchens und der Verderbtheit, Frauenpos nachzusehen!“ Nur schlecht riechen oder Geräusche machen sollten sie nicht: „Liebe Charlotte Roche, (…) Sie sagen, dass Sie Penisse und Muschis durch die Hose riechen wollen. Ich bin zu blöd für dieses neue Frauenbild. (…) Eine Frau, die furzt, kann ich nicht küssen. Ich liebe himmlisch riechende Frauen, heilige Frauen, die nach Efeu duften. Natürlich weiß ich, dass eine Frau einen Darm hat. Aber wenn sie auf Klo muss, lege ich Mozart auf, um ihre Geräusche nicht zu hören.“ Das liest sich, als ob alles gesagt wäre, aber F. J. Wagner wäre nicht F. J. Wagner, wenn ihm dazu nicht noch eine gesellschaftliche Dimension dämmerte: „Anscheinend wollen viele Frauen wahrgenommen werden als furzende, stinkende, schwitzende Urgeschöpfe. Eine postmoderne Fiktion des Feminismus.“ Wobei hier Feminismus ohne negativierendes Adjektiv auskommt, weil für den Dichter die teuflische Dimension im Worte selbst steckt, wie etwa bei Faschismus oder Hodenkrebs. Es ist allerdings nicht so, dass Wagner grundsätzlich etwas gegen Körpergerüche hätte, im Gegenteil. An einen, wegen Schweißgeruchs gekündigten, Architekten schreibt er: „Was für ein Urteil gegen alles, was uns Deutschen heilig war. Ohne Schweiß, kein Preis. Jeder, der etwas leistet, schwitzt. Schweißgeruch als Kündigungsgrund ist das Letzte, was wir in Deutschland brauchen. Wir brauchen schwitzende Männer!“
Was ihn selbst zum Schwitzen bringt, verrät der Dichter wenig später in einem Brief an die Freifrau zu Guttenberg (seinerzeit Verteidigungsministergattin), der wohl zu den beeindruckendsten Literarisierungen des Masturbationsvorgangs gehört, die je in deutscher Sprache verfasst wurden. Darin gelingt es ihm bereits im ersten Satz die Brücke von der moralischen zur sexuellen Erregung zu schlagen: „Sie machen sich Sorgen um unsere Kinder im Pornoland Deutschland, weil wir aufwachsen mit Nippeln, nacktem Fleisch, Ledermasken, Dildos.“ Mit den letzten vier Begriffen ist das Grundmotiv eigener Begierde definiert, doch für einen kurzen Moment noch hadert der Onanist mit ihr: „Leider wahr. Aus einer verklemmten Nation ist ein Pervers-Land geworden.“ Dann allerdings schreitet er unumwunden mit kurzen Stoßsätzen zur Tat: „Nachts Dauer-Masturbieren im Privat-TV.“ … „Im Internet schwingen Dominas im schwarzen Lederkorsett die Peitsche.“ … „Alle können frei gucken.“ … „Kinder, Jugendliche.“ Hier – zurück unter der lodernden Sonne Antalyas, wo minderjährige Mädchen ja meinen, wenn sie nein sagen – könnte es schon fast vorbei sein. Aber das lyrische Ich will den Höhepunkt noch nicht erreichen, zügelt sich mit Romantik: „Ich bin froh, dass ich in der verklemmten Welt aufgewachsen bin, in den 60er-Jahren. Wenn ich beim Tanzen meine Hand um die Taille eines Mädchens legte, dann spürte ich Stromstöße, als hätte ich ein defektes Kabel berührt.“ Damit fügen sich Erinnerungsbilder in die pornographische Erregung und der masturbatorische Prozess beginnt sich erneut zu beschleunigen: „Damals waren trägerlose Kleider Mode.“ … „Der Busen hielt das Kleid.“ … „Den Busen anzufassen, war so mutig, wie seinen Kopf auf eine Eisenbahnschiene zu legen.“ Und mit zwei kurzen Sätzen geht es dann zum Klimax: „Der Busen war so fern.“ … „Wir träumten davon.“ Was folgt, ist ein Absatz – eine Leere, in der uns der Dichter mit unseren eigenen Gefühlen allein lässt, während das lyrische Ich sich durch die Scham zur Reue kämpft, um in den Schoß der christlichen Sexualmoral zurückzukehren. Conclusio: „Ich unterstütze Frau Guttenberg in ihrem Kampf gegen den Porno. Weil er keine Liebe ist.“
Was dagegen Liebe ist, erklärt Wagner dann sicherheitshalber noch mal der Liebe selbst, in seinem Brief an die „Liebe Liebe“, für den Fall, dass sie, die Liebe, vor lauter Pornographie und Perversion inzwischen vielleicht vergessen hat, was sie ist: „Ich persönlich sehne mich nach Liebe, denn ich habe es als Alleinlebender satt, mir den Fraß in die Mikrowelle zu schieben (…) während überall in den Wohnungen Rindsrouladen mit Petersilie bestreuten Kartöffelchen gereicht wurden, im Schweiß weiblicher Mühe zubereitet. Meine Pizza war kalt, als ich zu Hause ankam. Ich aß sie, rauchte dabei und las die Sonntagszeitungen. Was für ein schrecklicher Sonntag (…). Erschwerend kommt dazu der fehlende Geruch frisch gestärkter und gebügelter Wäsche. Da war die Hand, die ein Bügeleisen führte, die die Teller abwusch, die die Blumen begoss. (…) Das alles ist für mich Liebe. Vögeln wie die Ratten ist für mich nicht Liebe. Liebe ist für mich eine Rindsroulade.“ Und dass der Dichter mit dieser Rindsroulade noch ganz andere Dinge anstellen kann, als sie nur zu essen, verdankt er dem Pfizer-Konzern: „Dank Viagra mischt der alte Mann im fleischlichen Aspekt des Lebens wieder mit. Viagra ist die Pille, die den Penis des Blutes und die eheliche Trägheit wieder belebt.“ Es sind ambivalente metaphorische Leuchtkerzen, die Wagner hier zündet: Die Gleichsetzung von Liebe und Rindsroulade, der „Penis des Blutes“, die „eheliche Trägheit“. In der Dunkelheit zwischen diesen poetischen Lichtern, geschehen sonderbare Dinge, die wir nur mutmaßen können und selbstverständlich auch mutmaßen sollen.
Wenn der Dichter aber seinen „Penis des Blutes“ mal nicht in Schmorfleisch stecken hat, hebt er ihn am liebsten hier auf: „Liebe Schiesser-Unterhose, du warst für den deutschen Mann das, was für Adam und Eva das Feigenblatt war. Die anständige Unterhose, Feinripp, weiß. Jetzt hast Du Insolvenz angemeldet, nach Märklin der zweite Männerschock. Was für eine Unterhose soll ich mir demnächst kaufen? Ich habe keine Erfahrung in Unterhosen. Meine Mutter hat meinem Vater, meinem Bruder und mir die Unterhosen gekauft und sie auch gewaschen. Meine Beziehung zu Unterhosen ist mütterlich, (…) sie wurden gewaschen von der Mama.“ Und in mit leiser, kulturpessimistischer Melancholie fügt er an: „Es erstaunt mich überhaupt nicht, dass Schiesser pleite geht. Die Unterhose des Mannes hat keine gesellschaftliche Bedeutung.“ Doch F. J. Wagner ist keiner, der sich mit dem Untergang des Feinripp-Abendlandes zufriedengibt, so lange er noch einen Adressaten findet, von dem er sich Hilfe verspricht: „Lieber Nikolaus, bei mir warst Du nicht, obwohl ich die Rute verdient hätte. Ich quassle zu viel, ich rauche und trinke zu viel, ich fluche. Wahrscheinlich warst Du auch nicht in Potsdam, um den Platzeck und seinen Stasis eins überzuziehen. (…) Warst Du bei der Kanzlerin? Rute oder Plätzchen? Der Start ihrer Koalition ist rutebedürftig. Was für ein leichtes Spiel für einen Nikolaus. Alle sind Hosenträgerinnen. Von der Leyen, die Kanzlerin, die junge Ministerin, Frau Schavan. Du lieber Nikolaus bist zu alt, Du liebst uns alle. Wo ist Deine Rute? Sei böse!“
Aus diesen Zeilen spricht nicht, wie der ungeübte Wagnerianer wohl mutmaßen möchte, die Verzweiflung über das von Hosen allzu hermetisch abgeschlossene Paradies des weiblichen Schoßes, eher schon der Wunsch nach symbolischer Vergeltung für die eigene hart durchlittene Kindheit, denn: „Ich bin in den 50er-Jahren in die Schule gegangen. Ja, die Lehrer schlugen uns, züchtigten uns. Heute würde jeder Lehrer ins Gefängnis kommen. Ich war Internatsschüler bei den ‚Regensburger Domspatzen‘, mich haben die Präfekten geschlagen. (…) Sexuell wurde ich nie belästigt bei den ‚Regensburger Domspatzen‘, weil ich vielleicht kein hübscher Junge war.“
Es ist ein sonderbares „vielleicht“ mit dem uns der Dichter hier konfrontiert. Sucht er etwa Widerspruch? Oder will dieser scheinbare Zweifel nur überleiten zu einem seiner Kernmotive, nämlich der stets leicht ins Surreale driftenden poetischen Realitätsverweigerung? Hier etwa in einem Brief an Stephen Hawking: „Ihre Schlussfolgerung ist, wir sind alle zufällige Kreaturen. Wenn wir tot sind, dann sind wir tot. Wen interessiert’s. Das Nichts interessiert nichts. Was für ein fürchterliches Universum beschreiben Sie. Ein Universum ohne Liebe,“ – also Rindsrouladen – „Humanismus, Mitgefühl. (…) Ich dumm, Sie Genie. Vor dem Urknall war für mich Gott.“ Und präziser noch in einem Brief an Charles Darwin: „Mozart war kein Schimpanse, der Mensch, der das Rad erfunden hat, war kein Rhinozeros, das Eichhörnchen hat auch nicht die Zahnpasta erfunden. Wann hat ein Gorilla gedichtet wie Goethe, ein Spatz Einfluss auf Kunst, Musik, Literatur gehabt? Hat ein Hamster die architektonischen Wunder wie den Kölner Dom oder das Empire State Building geschaffen? (…) Ich glaube Ihrer Theorie nicht.“
Es ist diese Unbeirrbarkeit in seiner Bereitschaft zur lyrischen Negation des Faktischen, die F. J. Wagner so einzigartig macht. Aber wie schafft er das? Woher nimmt er die Kraft, sich in seinem einsamen Kampf für eine poetischere Welt tagtäglich gegen die Herzlosigkeit und Kälte von Aufklärung und Wissenschaft zu stemmen? Die Antwort gibt er selbst: „Lieber Rausch, ein Dichter nannte Dich „künstliches Paradies“, weil Du den Trinker herausholst aus dem Täglichen ins Nächtliche, hoch zu den Sternen. (…) Im Rausch bricht man auf, ohne wegzugehen. Ich schreibe das nicht als Theoretiker. Im Rausch entsteht ein anderer Mensch. (…) Der Ängstliche wird tapfer, die Bibliothekarin mit Brille eine Latex-Sünde, der Briefschreiber Wagner wird im Rausch ein Dichter. Ich kenne mich aus mit Räuschen.“ Und wo findet Wagner seinen Rausch? Zum Beispiel hier: „Liebe Eckkneipe, ich glaube, dass gestern Nacht nur auf das Bundesverfassungsgericht angestoßen wurde. Das Bier war blond, die Luft war blau und die Kneipe endlich voll. Was bedeutet Rauchen? Wegpusten, Sorgen wegpusten. Was bedeutet Eckkneipe? Museum der Huster, das Museum der Männer und Frauen mit den gelben Fingern. Für mich ist eine Raucherkneipe eine Sozialstation. Es rauchen da Männer ohne Frauen, Männer ohne Job, unglückliche Männer. Sie gucken den Rauchwolken nach, Zigarettenwolken, Lebenswolken.“ Doch es gibt auch andere Räusche im Leben des Dichters: „Lieber Schnee, (…) früher gab es die Winterstille, den fallenden Schnee. Der Schnee war gottgewollt, wie die Märzsonne, die ihn auftaute. Auch heute gibt es Schnee. Unser Problem ist, dass wir nicht mehr wissen, wie man mit Schnee lebt.“
Hier kokettiert F. J. Wagner, denn zumindest er weiß sicher sehr gut, wie man mit diesem neuen Schnee lebt. Das wird offensichtlich, wenn er sich seinem zweiten Kernthema zuwendet, nämlich sich selbst: „Wenn ich anfange zu schreiben, ziehe ich die Vorhänge ein Stück auf, damit etwas Himmel auf den Schreibtisch fällt. (…) Er ist weiß lackiert und hat 4 Beine wie Eichen. Wenn man an einen Mörder schreibt, darf der Schreibtisch nicht wackeln. Wenn man an die Opfer des Erdbebens von Haiti schreibt, dann beginnt mein Schreibtisch zu wackeln. Ein kleiner, weißer Stein liegt auf meinem Schreibtisch. Ich habe ihn mir geklaut aus dem Garten von Einstein. Ein kleiner Elefant ist noch da, der den Rüssel nach oben streckt. Eine Uhr, die mir zeigt, wie spät es in Caracas ist. An diesem Schreibtisch reise ich durch die Welt. (…) Ein Mensch, der mit Menschen sprechen will.“ Ein fallender Himmel, Eichen mit vier Beinen, aufgestellte Rüssel, Einstein, Caracas – Wagner sucht hier den Schulterschluss mit Expressionismus und Surrealismus, ohne jedoch die einfache Schönheit unserer Natur aus dem Auge zu verlieren: „Vielleicht bin ich naiv, aber der gestrige Tag weckte Hoffnungen, dass erhabene Ideen wieder Bedeutung gewinnen. Maus, Maulwurf streckten ihre Köpfchen heraus, und auch wir Menschen schnüffelten den Frühling. Wie unwichtig die Haushaltsdebatte, böse Banker, böse Priester. Frühling ist wie gutes Einatmen und schlechtes Ausatmen. Die Sonne ist die Kraft unseres Lebens, es ist das Original. Wir können ohne sie nicht leben. Wir empfinden es mit den ersten Sonnenstrahlen. Die Mäuse und Maulwürfe empfinden es genauso.“
Ein Maulwurf, der nicht ohne Sonne leben kann? Es ist Wagners Stärke, uns mit solchen poetischen Experimenten allein zu lassen. Seine ganze Größe aber entfaltet der Dichter erst, wenn er seinen Schreibtisch verlässt und alles riskiert, um zu uns Normalsterblichen hinab zu steigen, beispielsweise in die Berliner U-Bahn: „Jetzt sind wir unter der Erde Berlins, die Wände sind mit Spray beschmiert, zwei Typen in Gangster-Rap-Klamotten tauchen auf. Meine Tante würde ohnmächtig werden. (…) In der U-Bahn riecht es nach abgestandenem Leben. Drei Betrunkene steigen zu, sie haben Bierflaschen in den Händen. (…) Ich stelle mir vor, wie ich blutüberströmt zu der Notrufsäule krieche und den untersten Knopf erreiche. (…) Um uns herum die müden starren Gesichter, einsam, verloren. Untergrundfahrer-Gesichter, Unter-der-Erde-Fahrer. Niemand guckt jemanden an. Niemand interessiert sich für einen. (…) Unter der Erde Berlins herrscht ein anderes Leben. Es ist nicht mein Leben.“ Das sind wahrlich bedrückende Zeilen! Doch der größte Feind des Menschen ist nicht die U-Bahn, sondern Sodomie: „Ich habe nichts gegen Kühe. Ich liebe ihre Milch und esse sie gerne als Steak. Der Gedanke, menschliche und tierische Zellen zu verbinden, ist für mich ein Frevel gegen Gott. Es ist, wie wenn man ein Kind in einem Atomkraftwerk spielen lässt. (…) Ich Mensch habe kein sexuelles Verhältnis mit einem Baum oder einer Kuh oder einer Ziege.“ Es sei denn, – und auch hier ist Wagner ganz poetischer Dialektiker, dem jede absolute Wahrheit zuwider ist – man reicht sie ihm als Roulade …
Man könnte ewig so weitermachen, kann man aber leider nicht. Nach über 6000 solcher sogenannten Kolumnen ist der offenbar doch nicht unsterbliche Franz Josef Wagner am 7. Oktober 2025 mit 82 Jahren verschieden. Was er hinterlässt, ist ein tiefer Krater in der deutschen Literaturlandschaft, eine schmerzliche Leerstelle. Ob er nun „im Himmel“ schreibt, wie die BILD titelte? Wir wissen es nicht. Aber wünschen wir ihm, dass er glücklich war, auf seinem Weg wohin auch immer: „Nette Stewardessen …“