Von Markus Liske
(Artikel erschien in der Jungle World 22/23)
Die Ehrenrettung des „Ossis“ scheint das neue Feld von Identitätspolitik zu werden. Einige Autoren wollen mit vermeintlichen Mythen und „Fremdzuschreibungen“ über Ostdeutsche und die DDR aufräumen und fordern Wertschätzung der „Ostidentität“.
Anfang Mai in der ostdeutschen Provinz: Im Spiegelsaal des Rheinsberger Schlosses ist gerade eine Buchvorstellung zu Ende gegangen. Ein älteres Paar, das bereits mit dem Applaus vor die Tür getreten ist, am Idiom klar als Brandenburger zu erkennen, ist nicht wirklich zufrieden mit der Veranstaltung. „Ich dachte, das wird ein akademischer Vortrag, aber der hat ja nur über Gefühle geredet“, sagt der Mann. „Und wie!“, sagt die Frau. „Im privaten Rahmen klingt der wahrscheinlich genau wie dieser Springer-Typ da, nur andersrum.“ Sie lachen.
Das muss man dem Vorstandsvorsitzenden des Axel-Springer-Verlags Mathias Döpfner lassen: Mit seinen kürzlich an die Presse durchgesteckten Textnachrichten ist es ihm gelungen, in gleich mehreren laufenden Debatten immer wieder zitiert zu werden. So auch in der neu entflammten Diskussion über Ostdeutschland, die auf die Buchveröffentlichungen der Historikern Katja Hoyer und des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann folgte. „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig“, schrieb Döpfner und hätte es damit zweifellos in beide Werke geschafft, wären die nicht schon gedruckt gewesen. Immerhin können sich Hoyer und Oschmann nun in Interviews auf Döpfner beziehen, was sie beide auch gerne tun. Schließlich geht es in ihren ansonsten sehr unterschiedlichen Publikationen im Kern darum, ostdeutsche Befindlichkeit gegen fortdauernde West-Arroganz zu verteidigen.
„Beyond the Wall“ („Jenseits der Mauer“) lautet der Originaltitel von Hoyers kleiner DDR-Geschichte. Hoyer lebt seit vielen Jahren in London, publiziert vorwiegend auf Englisch und hat auch dieses Buch zunächst für den englischsprachigen Buchmarkt geschrieben. In fluffigem Stil macht sie ihre Leser mit einigem Grundsätzlichen über die DDR vertraut – von den Biographien ihrer Gründer bis zur Selbstauflösung des Staates 1990.
So weit, so unspektakulär. Wäre da nicht der im Deutschen zu „Diesseits der Mauer“ abgeänderte Titel, mit dem sich die 1985 in Guben geborene Autorin auf ihre gerade mal fünfjährige Geschichte als DDR-Bürgerin beruft und sich somit selbst zum Teil ihres Forschungsgegenstands macht. Denn im Fokus des Buchs stehen nicht politische Vorgaben und Entwicklungen, sondern das alltägliche Leben im untergegangenen Staat, das, Hoyer zufolge, trotz Stasi-Überwachung, ideologischer Indoktrination und fehlender Meinungs- und Pressefreiheit eigentlich ganz passabel gewesen sei: „Es gab Unterdrückung und Brutalität, ja, aber auch Chancen und Zugehörigkeit“, ist dort zu lesen. „Die Bürger der DDR lebten, liebten, arbeiteten und wurden alt. Sie fuhren in den Urlaub, machten Witze über ihre Politiker und zogen ihre Kinder auf.“
Dasselbe könnte man freilich über den Iran oder über das heutige Russland sagen, und bevor sich abzeichnete, dass man den Krieg verlieren würde, galt es zweifelsohne auch für die „arische“ Mehrheit im nationalsozialistischen Deutschland. Das Erleben privaten Glücks ist eben (zumindest phasenweise) auch unter widrigsten Bedingungen möglich.
Relevanter für eine politisch-historische Einordnung einer Gesellschaft ist es daher, Lebenswege zu betrachten, die aufgrund staatlicher Repression eher suboptimal verliefen oder gar viel zu früh endeten. Solche Biographien allerdings blendet Hoyer weitgehend aus und kapriziert sich bewusst auf Stimmen, die „mit Wehmut“ auf ihr früheres Leben zurückblicken. So werden etwa die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei der Uranförderung für das sowjetische Atomprogramm zwar durchaus benannt. Doch dass die Menschen hier schutzlos radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, verpackt Hoyer in eine lustige Anekdote. Deren Erzähler, schreibt sie, „habe die Arbeit vielleicht nicht geliebt, aber zumindest seine Situation akzeptiert, welche es ihm immerhin ermöglicht habe, seine Familie recht gut zu ernähren“.
Auch die von Hoyer interviewten Soldaten der Grenztruppen haben manch lustige Erinnerung parat. Der einzige Mauertote, der in ihren Geschichten Erwähnung findet, ist ein Soldat, der von seinem flüchtenden Kameraden erschossen wird, nicht etwa umgekehrt. Noch bizarrer wird es, wenn es um das Leben der ausländischen Vertragsarbeiter in der DDR geht. Die nämlich blieben keineswegs „aus zynischen oder gar fremdenfeindlichen Gründen weitgehend isoliert, wie man gelegentlich behauptet“. Hoyer schreibt: „solche Unterstellungen entspringen vor allem einer heutigen Perspektive und berücksichtigen kaum den ökonomischen und ideologischen Kontext, in dem die DDR agierte“.
Das Wort Rassismus kommt im Weiteren ebenso wenig vor wie die rechtsextremen Strukturen, die bereits in den achtziger Jahren virulent wurden und sich nach dem Mauerfall zu einer rechten Massenbewegung auswuchsen, der Hunderte von Menschen zum Opfer fielen und deren treibende Kräfte bis heute das gesellschaftliche Leben in den Provinzen prägen. Damit bedient Hoyer die altbekannte ostdeutsche Schutzbehauptung, die Nazis seien 1990 aus dem Westen gekommen und die eigenen Kinder hätten sich nur verführen lassen. Dass sie sich dazu nicht weiter äußert, liegt auch daran, dass ihr Buch dazu beitragen soll, „die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln“.
Noch weniger als das Schicksal nichtweißer Menschen interessiert Hoyer der Umgang der DDR mit Intellektuellen und Künstlern. Ihr geht es schließlich um das Glück der einfachen Leute, nicht um das Unglück von ein paar Querulanten. Im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit darauf angesprochen, was die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch sowjetische Truppen für die Menschen in der DDR bedeutete, sagt sie: „Diese speziellen Reformdiskussionen wurden (…) meist unter Intellektuellen geführt. Aber die waren eine Minderheit, die damalige Gesellschaft bestand zu großen Teilen aus Arbeiterinnen und Arbeitern. Sie wollten, dass es ihnen gutgeht, dass sie ihre Kinder aufziehen und in den Urlaub fahren können.“ Kein Wunder also, dass Hoyers Buch gerade bei vielen in Ostdeutschland geborenen Intellektuellen nicht sonderlich gut ankommt. Der Schriftsteller Marko Martin bezeichnet das von Hoyer skizzierte Verhältnis der BRD zur DDR eine „schräge Verschwörungstheorie“. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk wirft ihr vor den aktuellen Forschungsstand auf geradezu „peinliche Art“ zu ignorieren.
Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann allerdings dürfte in Hoyer eine Geistesverwandte sehen. Zwar ist er deutlich älter als sie und hatte somit mehr Gelegenheit, Erfahrungen in der DDR zu sammeln, doch auch seine akademische Karriere begann erst nach 1990. Während sie zum Studium nach Großbritannien ging, forschte er einige Zeit in den USA. Das hält jedoch weder sie noch ihn davon ab, stets verklärend gen Osten und anklagend gen Westen zu blicken.
Oschmanns Buch wirkt dabei sogar noch absurder, gab er ihm doch einerseits den Titel „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, um dann andererseits selbst eine spezifisch ostdeutsche Identität zu beschwören, nur eben ohne all die negativen „Zuschreibungen“ der Wessis. Gegen Ende des Buchs bemerkt er den Widerspruch sogar selbst: „Man könnte überhaupt aufhören, das unfreie und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen, das ich hier zwangsweise selbst noch einmal vorgeführt habe.“ Wer oder was genau ihn dazu gezwungen hat, außer vielleicht die eigene (in Interviews offen vor sich hergetragene) Geltungssucht als Fürsprecher einer vermeintlich diskriminierten Bevölkerungsgruppe, bleibt leider im Dunkel. Und die „Zuschreibungen“, die er beklagt, könnte man in der Mehrzahl auch Fakten nennen – von den Wahlergebnissen der AfD über die allgegenwärtige Pflege archaischer Männerbilder („Ostdeutsche Härte“) bis hin zur Begeisterung vieler Ostdeutscher für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Nicht, dass Oschmann all das leugnen würde – er sieht darin eine Art Trotzreaktion auf westdeutsche Medien, die sich über „Ostmänner öffentlich und ungestraft lustig machen“. Besonders schlimm findet er es, wenn ein ostdeutscher Kabarettist wie Olaf Schubert mit Witzen über Nazis quasi zum Kollaborateur wird. „Selbstdemütigung durch vorauseilende Ironisierung“, nennt er das und verweist darauf, dass ja auch „immer mehr Rechtsradikale aus dem Westen in den Osten ziehen“ würden. Außerdem sei es „gar nicht einzusehen, dass auf Dauer nur der Osten die Folgen des von allen Deutschen verantworteten Nationalsozialismus ausbaden soll“. Ein beeindruckender Satz, ist es doch nicht die gesamtdeutsche Historie, die dem Osten zur Last gelegt wird, sondern die massive Präsenz heutiger Nazis. Und auszubaden haben das in erster Linie Migranten, Linke und alle deren Lebensentwürfe nicht ins nazistische Gesellschaftsbild passen.
Selbst wo Oschmann recht hat, wie etwa wenn er beklagt, dass Ostdeutsche in Führungspositionen unterrepräsentiert sind, schafft er es, daraus bizarre Ideen zu entwickeln. So fordert er im Interview mit der FAZ eine Ost-Quote zur Lösung des Problems, ohne offenbar je darüber nachgedacht zu haben, wie eine solche umzusetzen wäre. Ist jemand ostdeutsch, der in Erfurt geboren wurde, aber seit dem zweiten Lebensjahr in Bonn wohnt? Was gilt im umgekehrten Fall? Vererbt sich ostdeutsche Identität vielleicht sogar und wenn ja, müssen dann beide Eltern zwischen Harz und Oder aufgewachsen sein?
All das sind Fragen, die jeder Identitätspolitik zwangsläufig innewohnen und noch die beste Absicht – so es sie gibt – in ihr Gegenteil verkehren. Dabei ist das Grundprobleme kein identitäres, sondern ein materialistisches: Ostdeutsche sind deswegen unterrepräsentiert, weil die meisten von ihnen 1990 ohne größeres familiäres Kapital dastanden, es keine bürgerliche Oberschicht gab, die ihre Kinder auf sogenannte Eliteschulen hätte schicken können. Im Gegenteil: Viele waren nach der „Wende“ lange arbeitslos und verdienen bis heute im Schnitt deutlich weniger als Westdeutsche. Die oft beschworene „Chancengleichheit“ kann es zwischen Ost und West gar nicht geben – einfach deshalb, weil es sie zwischen arm und reich nicht gibt.
Wer nun aber versucht, derlei materielle Fragen identitär zu überschreiben, ob mit Schönfärberei der DDR, wie Hoyer, oder indem er reale Missstände zu bloßen Zuschreibungen erklärt, wie Oschmann, und dabei die grotesken Ausfälle eines Mathias Döpfner als Beleg der eigenen Thesen begreift, hilft nur eine Mentalität zu verstetigen, in der Ostdeutsche sich als wahre Opfer der deutschen Geschichte fühlen und sich allzu oft auch entsprechend benehmen.
In Rheinsberg hat sich der Spiegelsaal inzwischen geleert. Der in der örtlichen Touristen-Information beschäftigte, den Identitären nahestehende AfD-Funktionär Daniel Pommerenke blättert zufrieden in seinen Notizen, während der Referent des Abends, Dirk Oschmann, mit breitem Grinsen von dannen schreitet.