WORT & TON im Juni/Juli 2023

WORT & TON im Juni/Juli 2023

Liebe Freunde von WORT & TON,

wir leben wahrlich in spektakulären Zeiten. Ein Skandal jagt den nächsten, und alles, was wir gestern noch für das Gute, Schöne, Wahre hielten, erweist sich plötzlich als klaffender Abgrund voller Schmutz und Bösartigkeit. Gerade erst mussten wir lernen, dass die BILD-Zeitung gar nicht das feministische Kulturmagazin für angewandten Humanismus ist, als das sie uns jahrzehntelang erschienen war. Wenig später dann die Erkenntnis, dass Awareness, Freundlichkeit und Anstand bei unserem allerliebsten Kuschel-Fußballverein Bayern München in Wirklichkeit nicht ganz so groß geschrieben werden wie Macht, Profit und dicke Klöten. Und jetzt auch noch das: Die woken Schmuserocker von Rammstein, zu deren einfühlsamen Balladen wir doch schon so manches Tränchen weinten, werden plötzlich als völlig enthemmte misogyne SM-Narzissten mit Nazi-Fetisch entlarvt! Welche Schocknachricht kommt als nächstes?

Wird sich vielleicht erweisen, dass die FDP gar keine sozialistische Partei ist? Dass Olaf Scholz sich nicht nur listig verstellt, wenn er auf jede konkrete Frage mit leerem Geschwurbel antwortet, sondern tatsächlich keine Antworten hat? Dass es eigentlich völlig egal ist, welche Partei man wählt, weil am Ende immer das Asylrecht verschärft wird? Dass Polizei und Justiz junge Leute, die sich aus Panik vor dem Klimawandel auf Straßen kleben, grundsätzlich problematischer finden als organisierte Rechtsextreme? Ja, dass sie lieber Linke, die Rechte verprügelt haben, für längere Zeit einknasten (5 Jahre Haft für Lina E.) als Rechte, die Journalisten verprügelt haben (1 Jahr auf Bewährung plus Sozialstunden für Gianluca B.)? Dass rund ein Drittel der deutschen Männer Gewalt gegen Frauen “akzeptabel” findet und die Tagesschau das als “sehr traditionelles Rollenbild” beschreibt? Oder gar, dass das Verhältnis der Deutschen zu Gas fast noch obszessiver ist, als ihre Liebe zum Dieselmotor?

Aber nein, liebe Freunde, lasst euch nicht beunruhigen! Schaut einfach mal nach draußen, genießt die Sonne, den blauen Himmel und die malerisch vorbeiwabernden Rauchwolken der Waldbrände, auf dass euch wieder klar werden: Der Mensch an sich ist schlau, und unsere Politiker tun ganz bestimmt alles in ihrer Macht Stehende, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Rammstein wird zweifellos all die bedauerlichen Missverständnisse von eigenen Anwälten brutalstmöglich aufklären lassen. Und selbst die AfD wird ihre hässliche Nazi-Fratze selbstverständlich sofort ablegen, um Regenbogenfahnen über den ostdeutschen Landtagen zu hissen, wenn sie dort erst mal regiert. Wir wissen doch alle: Am Ende wird alles meist weniger schlimm, als man befürchtet hat.

Erinnert ihr euch noch, was für haltlose Horrorgeschichten zum Beispiel über Wladimir Putin jahrelang verbreitet wurden? Ein größenwahnsinniger Kriegstreiber sei er und völlig skrupellos. Heute wissen wir, dass er eigentlich nur seinen beiden großen Vorbildern Greta Thunberg und Mutter Theresa nacheifern, den natürlichen Flusslauf des Dnepr wiederherstellen und möglichst vielen armen ukrainischen Kindern die Freuden einer russischen Erziehung ermöglichen wollte. Oder nehmen wir die iranischen Mullahs: Wie lange haben wir die für pathologische Frauenhasser gehalten, um nun reumütig erkennen zu müssen, dass die von ihnen verhängte Kleider- und Sittenordnung nur dazu diente, die Iranerinnen vor notgeilen deutschen Dumpfrockern zu schützen. Ja, die meisten Dinge, die uns ungerecht und grausam erscheinen, haben in Wirklichkeit einen tieferen Sinn, der sich uns oft erst Jahre später erschließt. Außer Habecks Heizungsgesetz, versteht sich – das ist natürlich des Teufels!

Aber bevor wir nun anfangen, die K.O.-Tropfen aus den Schlagzeilen der BILD-Zeitung zu lutschen, um in der intellektuellen Row Zero des konservativen Kampagnenjournalismus der kommenden Kanzlerschaft von Friedrich Merz entgegen zu fiebern, möchten wir lieber an ein anderes wichtiges Thema dieser Tage erinnern: Ostdeutschland!

Ja, tatsächlich, das gibt es noch – und nicht etwa nur nüchtern geographisch. Nein, verschiedene Wissenschaftler haben unlängst herausgefunden, dass die Leute, die dort wohnen, sogar über eine spezifische ethnische Identität verfügen! Wem genau diese brillante Erkenntnis zu verdanken ist und welche Tipps für die artgerechte Haltung dieser possierlichen deutschen Subethnie aus ihr resultieren, darüber hat Markus Liske unter dem Titel “Ostdeutsche Unschuld” für die Jungle World geschrieben.

Gut, Identitätspolitik ist oftmals ein wenig problematisch, weil sie gerne benutzt wird, um handfeste materielle Probleme so blickdicht mit einem wirren Wust an Fühligkeiten zu ummänteln, dass es irgendwann beispielsweise nicht mehr darum geht, Armut zu bekämpfen, sondern nur noch den mangelnden Respekt vor armen Menschen. Deshalb ist es hin und wieder gut, sich daran zu erinnern, worum es wirklich geht – auch beim alten Ost-/West-Thema. Eine kleine Handreichung hierzu hat Manja Präkels gerade unter dem Titel “Na, dann müssen Sie da wegziehen!” in der Zeitschrift Luxemburg veröffentlicht. Außerdem geht sie darauf in ihrem Epilog zum frisch erschienenen Band “DDR im Plural” (Metropol Verlag) ein, dessen Lektüre wir euch hiermit ans Herz legen.

Wo hingegen identitätspolitische Erwägungen zwar nicht unbedingt auf den richtigen, aber doch immerhin auf den rechten Weg führen, das hat die Bildung des neuen Berliner Senats gezeigt. Im Roten Rathaus wird Diversität nämlich künftig so groß geschrieben, dass kleinere Reformprojekte wie der Ausbau der Autobahn A100, die Eventisierung der Kultur oder das Zusammenstreichen ökologischer Vorgaben dagegen wie lässliche Kollateralschäden erscheinen. Nachzulesen ist das in Markus Liskes Artikel “Modern, divers, reaktionär”, der ebenfalls in der Jungle World erschien.

Fall ihr euch nun denkt, ist ja alles schön und gut mit diesem Identitäts- und Diversitätskram, aber eigentlich lese ich diesen Newsletter doch nur, weil ich wissen will, wann ich Der Singende Tresen wieder live erleben kann, so müssen wir euch leider noch etwas vertrösten. Konzerte gibt es erst ab August wieder (Bayreuth und München). Eure Aufgabe ist es, bis dahin die neue CD “alleswasderfallist” rauf und runter hören und euch die Refrains zum Mitsingen einzuprägen. Einige von euch haben sie ja schon über unseren neuen Shop bestellt, aber in knapp zwei Wochen steht sie euch auch im offiziellen Handel bzw. auf allen gängigen Download-Plattformen zur Verfügung.

Wo man uns (wenn auch ohne Band) in den nächsten Wochen leibhaftig treffen kann, das lest ihr hier:

TERMINE

Sa. 10. Juni, 17:00 Uhr

Manja Präkels liest: “Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß”

Literaturfest Meißen

Interkulturelle Bühne Heinrichsplatz

Meißen

 

Fr. 16. Juni – 19:30 Uhr

Manja Präkels liest: “Welt im Widerhall”

Literaturfestival Altenburg

Alte Seifensiederei

Altenburg

 

Mi. 21. Juni – 16:30 Uhr

Manja Präkels: »Heute war wie gestern« – Vom Alltag in Angstlandschaften  

im Rahmen der Veranstaltung “Kein ruhiges Hinterland – Literatur und ländlicher Raum”

Literaturforum im Brecht-Haus

Berlin

 

Fr. 23. Juni – 20:00 Uhr

Manja Präkels liest: “Welt im Widerhall”

Theater im Fraunhofer

München

 

Sa. 24. Juni – 15:30

Manja Präkels liest: “Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß”

Pfarrhoffest

Dorfkirche

Wustermark

 

So weit erst mal, und mehr schon bald. Bis dahin seid euch bitte stets sicher: Ob ihr aus dem Osten oder Westen seid und ob ihr bei Rammstein zuerst an eine widerwärtige Band oder an einen Militärflughafen denkt, auf dem mal ein schreckliches Unglück geschah: Für uns spielt das keine Rolle. Denn für uns bedeutet Diversität nicht zementierte Ungleicheit, sondern Vielfalt in Gleichheit. In diesem Sinne: Gehabt euch wohl!

Eure fröhliche Ost-West-Melange in der

Gedankenmanufaktur WORT & TON