WORT & TON im Juni/Juli 24

Liebe Freunde von WORT & TON,

Europa hat gewählt, und das ist ja erst mal eine gute Sache. In anderen Gegenden der Welt dürfen die Leute schließlich gar nicht wählen. In den palästinensischen Autonomiegebieten zum Beispiel wurde das letzte Mal vor 18 Jahren an die Urne gerufen. Seither gibt es dort zwei Diktaturen – die der Hamas im Gazastreifen und die der Fatah im Westjordanland, die zwar jederzeit eine neue Wahl ausrichten könnten, aber offensichtlich so wenig Lust auf Demokratie haben, wie auf Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Juden, Schwule und so weiter.

In China hingegen dürfen die Menschen zwar Vertreter auf unterster kommunaler Ebene wählen, alles Weitere macht die Nomenklatura aber lieber unter sich aus. Und in Russland hat man nur die Wahl zwischen Putins Partei und verschiedenen Pro-Putin-Parteien, wobei das Ergebnis allerdings ohnehin vorher feststeht. Man könnte also durchaus sagen, dass die Einwohner der EU in Sachen politischer Mitbestimmung klar im Vorteil sind. Dumm nur, dass viele darin offenbar keinen Vorteil sehen und deshalb Parteien wählen, die von Russland und China gefördert werden, um Europa auseinanderzutreiben.

Besonders ausgeprägt ist diese Haltung – das haben die Ergebnisse gezeigt – leider nicht nur unter depravierten Provinz-Incels um die fünfzig, die Fake-News putinistische Propaganda-Websites grundsätzlich für zuverlässiger halten als ordentlich recherchierte Beiträge der freien Presse. Nein, insbesondere bei jungen Menschen konnten die bösen Onkels der AfD mit dumpfer Deutschtümelei, Chauvinismus und Rassismus via TikTok massiv punkten. Kein Wunder also, dass inzwischen kaum noch ein Tag vergeht, ohne dass in irgendeiner Bar oder irgendeinem Biergarten nazistische Songs gegrölt und die Arme zum Hitlergruß gereckt werden. Sicher, im Osten, wo die AfD nahezu überall stärkste Partei wurde und das ebenso putinistische BSW teils auf Anhieb zweistellige Ergebnisse erzielte, ist es besonders schlimm. Doch auch in vielen westdeutschen Regionen ging die AfD zumindest als zweitstärkste Kraft ins Ziel. Es ist also längst kein regionales Problem mehr.

In anderen europäischen Ländern sieht es bekanntlich nicht besser aus: Die („Post“-) Faschisten Melonis sitzen in Italien fest im Sattel. In Frankreich bereitet sich der rechtsextreme Rassemblement National bereits darauf vor, nach den angekündigten Neuwahlen die Regierung zu übernehmen. Und in Österreich sind die koksenden Mallorca-Nazis nun auch wieder ganz obenauf. Es ist ein erschütterndes Gesamtbild, zu dem jedoch den meisten medialen Kommentatoren und den Analysten der einstmals “großen Parteien” als Erklärung mal wieder nur das Thema Migration einfällt. Dass das Rentensystem und die erbärmlichen Überreste des hiesigen Sozialstaats ohne Einwanderung gar nicht aufrechtzuerhalten wären – geschenkt. Hauptsache den nach rechts gewanderten Wählern geben, was sie wollen, in der trügerischen Hoffnung, sie dadurch zurückzugewinnen. Auch bei anderen, randständigeren Themen, wie zum Beispiel dem Recht auf Abtreibung (das ja nur rund 51 Prozent der Bevölkerung direkt betrifft), ist man gern bereit, dem rechten Rand entgegenzukommen, wie sich gerade beim G7-Gipfel zeigte. Wird bestimmt helfen.

Viel weniger wird dagegen darüber gesprochen, dass Putins Russland seit nunmehr mindestens 12 Jahren einen hybriden Krieg gegen „den Westen“ führt und – wie die Wahlergebnisse zeigen – dabei ist, ihn zu gewinnen. Dieser Krieg ist nicht zuletzt ein Informationskrieg, der darauf zielt, via Internetpropaganda die politische Lage hierzulande immer weiter zu destabilisieren, Misstrauen zu schüren und rechtsextreme Parteien nach vorn zu bringen, die im Sinne Putins agieren. Vermutlich wird diese Bedrohung deshalb kaum thematisiert, weil tatsächlich niemand eine Idee hat, was man dagegen tun könnte. Denn wer die Presse- und Meinungsfreiheit einschränkt, um sie zu schützen, nährt damit ja nur das Lügenpresse-Lieblingsnarrativ derjenigen, die sie – unter dem Vorwand sie „wiederherzustellen“ – tatsächlich abschaffen wollen.

Nicht allein dieser Satz, sondern leider auch das Problem, das er beschreibt, ist geeignet, Knoten im Hirn zu machen. Und für Menschen, die das hiesige System, so wie es ist, keineswegs für das bestmögliche halten, sich in Anbetracht der Lage aber dennoch gezwungen sehen, es gegen deutlich schlechtere Alternativen zu verteidigen, ist alles noch mal schlimmer. Was es bräuchte, wäre ein Ausfallschritt in die entgegengesetzte Richtung – raus aus der konservativen Hölle des bloßen Bewahrens gewohnter Unzulänglichkeiten und hin zu progressiven Ideen für eine bessere Zukunft. Um es mal in Fußballjargon zu übersetzen (ist ja gerade wieder EM): Aus der Defensive heraus mit schnellem Konter nach vorne spielen, um die Partie vielleicht doch noch zu drehen.

Dumm nur, dass die Linke ebenso wenig in der Lage ist, sich darauf zu verständigen, wo genau dieses ominöse „vorne“ sein könnte, wie die bürgerlichen Parteien. Selbst wenn bei Letzteren mal jemand eine gute Idee hat, so scheitert deren Umsetzung zuverlässig an der Komplexität der Strukturen: Erst müssen sich sehr unterschiedliche Koalitionspartner auf irgendeinen halbgaren Kompromiss ohne jede Strahlkraft verständigen, dann müssen sie ihre oft renitenten Bundestagsfraktionen davon überzeugen und schließlich muss das Ganze meist auch noch durch den Bundesrat, wo es wiederum ganz andere Mehrheiten mit weiterem Korrekturbedarf gibt. Damit nicht genug, finden sich am Ende garantiert noch ein paar Abgeordnete, die eine ausbremsende Verfassungsklage anstrengen …

Noch komplexer geht es auf EU-Ebene zu. Da wählen die Menschen zwar ein Parlament, haben aber keinen direkten Einfluss auf die künftige europäische Regierung (Kommission). Außerdem weiß man gar nicht, was genau man eigentlich wählt, wenn man wen wählt. Denn die Stimme geht ja immer nur an nationale Parteien, die ihren Wahlkampf meist mit nationalen Themen machen. Was genau hingegen die europäischen Fraktionen wollen, denen diese Parteien angehören, weiß kein Mensch – nicht mal sie selbst. Deshalb hat sich Markus Liske im Vorfeld der Wahl mal seufzend hingesetzt und unter dem Titel „Richtungswahl mit Wundertüten“ für die Jungle World einen kleinen Überblick verfasst.

Nicht weniger komplex ist das große Thema Stadtentwicklung, vor allem, wenn es um deren Auswirkungen auf das urbane soziale Gefüge geht. Am Beispiel des Kreuzberger Mehringplatzes hatten Manja Präkels und Markus Liske dazu schon im Dezember einen längeren Text in der Taz verfasst. Auf dessen Grundlage entstand nun außerdem noch ein dreiviertelstündiger Radio-Essay. Das Ergebnis trägt den Titel „Die Quadratur des Kreises oder: Im Projektraum hausen“ und kann bei SWR Kultur angehört werden. Wen dabei die “musikalischen” Einspielungen stören, dem sei an dieser Stelle versichert, dass wir dabei keinerlei Mitspracherecht hatten.

Neues von Manja Präkels und ihrem Projekt „Überlandschreiberinnen“, das wir euch im letzten Newsletter ja schon vorgestellt haben, wird es in Kürze in der Taz und im Magazin Soziopolis zu lesen geben. Außerdem findet sich ein Kurztext von ihr im aktuellen Journal der Künste, das diverse Autoren und Autorinnen um Statements zum Thema „Rechtsruck“ gebeten hatte. „Nach all den Nächten“ lautet der Titel von Präkels‘ Beitrag und verweist damit auf ein Gedicht von Erich Mühsam, für das es auch eine Vertonung von DER SINGENDE TRESEN gibt. Diese und viele andere könnt ihr hören, wenn ihr euch am 13. Juli ins Theater im Fraunhofer nach München begebt, wo wir mit unserer Mühsam-Geisterbeschwörung „Das seid ihr Hunde wert!“ an die Ermordung des Dichters im KZ Oranienburg vor 90 Jahren erinnern werden. Und damit wären wir auch schon angekommen bei:

TERMINE

Fr. 21. Juni – 09:00

Schülerinnen-Schreibwerkstatt mit Manja Präkels

(Ausgebucht!)

Peter Weiss Haus

Doberaner Str. 21

18057 Rostock

 

Mi. 26. Juni – 09:00

Schülerinnen-Schreibwerkstatt mit Manja Präkels

(Ausgebucht!)

Peter Weiss Haus

Doberaner Str. 21

18057 Rostock

 

Fr. 05. Juli – 19:00

Manja Präkels liest “Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß”

Klapperfeld/Faites votre jeu!
Klapperfeldstraße 5
60313 Frankfurt am Main

 

Do. 11. Juli – 19:30

Studio LCB: Clemens Meyer im Gespräch mit Manja Präkels, Shirin Sojitrawalla
und Katharina Teutsch

Literarisches Colloquium Berlin

Am Sandwerder 5

14109 Berlin-Wannsee

 

Sa. 13. Juli – 20:00

„Das seid ihr Hunde wert!“

Erich Mühsam zum 90. Jahrestag seiner Ermordung

Mit: Manja Präkels, Markus Liske & DER SINGENDE TRESEN

Theater im Fraunhofer

Fraunhoferstr. 9

80469 München

Danach machen wir dann erst mal eine kleine Sommerpause, allerdings nur was Auftritte angeht. Die sonstige Arbeit muss leider weitergehen. Schuld daran sind die im Herbst anstehenden Landtagswahlen und die damit verbundenen trüben Aussichten. In solchen Zeiten muss jeder tun, was er tun kann.

Eure diesbezüglich leider etwas pessimistischen Wahlwatcher in der

Gedankenmanufaktur WORT & TON