WORT & TON im Aug./Sept. 2024

Liebe Freunde von WORT & TON,

was ist das für ein seltsamer Sommer! Nein, wir meinen nicht die erfreuliche Tatsache, dass es hin uns wieder mal regnet. Was uns irritiert: Dieser Sommer hat bislang kein Loch! Keine Wildschweine, die sich als Löwen verkleiden, keine blutrünstigen Riesenwelse, die Jagd auf planschende Kleinfamilien machen – nichts dergleichen. Stattdessen wurde und wird uns pausenlos höchst unterhaltsamer Nachrichtenstoff geboten.

Zum Beispiel die Olympischen Sommerspiele: Erst gab es allerlei Aufregung wegen einer Versammlung von Drag-Queens und anderen queeren Gestalten, die angeblich während der Eröffnungszeremonie da Vincis „Letztes Abendmahl“ nachgestellt hätten. Welch ein Sündenfall! Dass der Tisch eigentlich ein Laufsteg war, die Zahl der daran versammelten „Jünger“ die Gefolgschaft von olle Jesus ums Zwei- bis Dreifache übertraf, und sich auch die Anwesenheit eines schlumpfblauen Weingottes weder in der Bibel noch auf da Vincis Gemälde nachweisen lässt – egal.

Lustig indes, dass dieses possierliche Diversitäts-Bacchanal dafür sorgte, dass kaum jemand sich moralisch über die anscheinend ungebrochene Lust der Franzosen am Guillotinieren von Adeligen empörte, obwohl das Revolutionslied „Ah! Ça ira“, hübsch bildhaft dargeboten von einem Chor aus abgeschlagenen Maria-Antoinette-Köpfen, doch eigentlich geradezu um Entrüstungsstürme bettelte. Nein, Diversität blieb der Aufreger dieser Spiele – nicht nur für den ungarischen Antidemokraten Viktor Orbán, der in der vermeintlichen Abendmahl-Nummer eine „Veranschaulichung des moralischen Verfalls des Westens“ erkannte. Auch für die BILD-Zeitung, die ihres selbsterteilten Volksverhetzungsauftrags für den Rest der Spiele mehr als gerecht wurde, indem sie die Boxerin Imane Khelif so oft als „‚männliche‘ Boxerin“ titulierte, dass man in Psychiaterkreisen bereits damit liebäugelte, „Redaktions-Tourette“ als neuartige Gruppen-Tic-Störung zu klassifizieren.

Aber nicht nur Olympia, auch die Bundespolitik gab sich zuletzt große Mühe, ja kein Sommerloch entstehen zu lassen. Gut, das oppositionsgeile Stänkereienfeuerwerk, dass die Mitglieder der drei Regierungsfraktionen gegeneinander abfeuerten, war erwartbar (siehe Gruppen-Tic-Störung). Den erfolgreichen Vorstoß ukrainischer Truppen auf russisches Territorium aber sofort mit Nachrichten über eine massive Reduzierung der Ukraine-Hilfen zu kontern, das kam schon überraschend. Vor allem die Begründung, die ausnahmsweise mal nicht darauf rekurrierte, dass man sich nicht in diesen Krieg „hineinziehen“ lassen wolle, sondern auf die gute, alte „Schuldenbremse“.

Mit der lässt sich ja bekanntlich nahezu alles begründen. Ob verrottende Infrastrukturen, Bildungsdesaster, Wohnungsknappheit oder eben militärische Unterstützung gegen Putins aggressiven Imperialismus – in all diesen Bereichen könnten wir so viel tun, doch ach, das können wir nicht. Denn wir haben uns ja vor 15 Jahren diese dämliche Schuldenbremse gleich ins Grundgesetz schreiben lassen, damit ja keine künftige Regierung jemals auf die Idee kommen kann, weitsichtig zu investieren. Muss eben alles zugrunde gehen. Oder, wie es der Schuldenbremsenschöpfer, Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, einst in vorausschauender Weisheit formulierte: „Hätte, hätte, Fahrradkette!“

Andererseits: Vielleicht wollte die Regierungskoalition auch nur unbedingt Schlagzeilen über gestrichene Ukraine-Hilfen produzieren, um den putinistischen Friedenstäubchen des Landes ein paar Brotkrumen hinzuwerfen. Schließlich wird demnächst in drei ostdeutschen Bundesländern gewählt, und das Desaster ist vorprogrammiert: Die FDP wird wohl aus allen drei Landtagen fliegen, die Grünen müssen zittern und selbst die SPD kann sich nicht sicher sein, es überall über die 5-Prozenthürde zu schaffen. In Ostdeutschland nämlich schlagen gar viele Herzen für Putin und die mit seiner Propaganda (sowie wahrscheinlich auch seinem Geld) bestens ausgerüsteten Parteien AfD und BSW. Zusammen kämen diese, nach aktuellen Umfragen, in Brandenburg auf 39, in Sachsen auf 43 und in Thüringen gar auf 48 Prozent.

Um also überhaupt noch eine Chance zu haben, künftig mitzuregieren, scheint man sich sowohl bei der in Brandenburg (noch) führenden SPD als auch in den CDU-Landesverbänden von Sachsen und Thüringen darauf verständigt zu haben, dass Sahra Wagenknecht mit ihrem klaren Führerbefehl an eventuelle Koalitionspartner, dass die Ukraine gefälligst ihrem Freund Wladi zu schenken sei, das kleinere Übel von beiden darstellt.

Warum das ein fataler Irrglaube ist, das könnt ihr nächste Woche in Markus Liskes Text „Abschied vom Westen“ (Arbeitstitel) in der Jungle World nachlesen. Zur Überbrückung der Wartezeit gibt es in der aktuellen Ausgabe aber noch ein bisschen Sommerloch-Prosa von Liske – darüber nämlich, dass die unter Großstädtern beliebtesten Löcher jedes Sommers – die Freibäder – in Berlin inzwischen nicht mehr für jeden zugänglich sind. „Freibaden mit Benjamin“ sollte der Text eigentlich heißen, aber weil der Autor vergaß, die Redaktion auf die hübsche Doppeldeutigkeit dieses Titels hinzuweisen, ist er als „Im Freibad mit Benjamin“ erschienen. Ebenfalls ausgesprochen hübsch ist der Titel einer neuen Anthologie im Satyr Verlag, zu der Liske einen Text beigesteuert hat. „Sind Antisemitisten anwesend?“ heißt das äußerst lesenswerte von Michael Bittner, Heiko Werning und Lea Streisand herausgegebene Buch, das am 2. September erscheint.

Aber zurück zu den Landtagswahlen, die zuletzt auch in unserer kleinen Gedankenmanufaktur das wichtigste Thema waren: Das Projekt „Überlandschreiberinnen“ nämlich hat inzwischen ordentlich Fahrt aufgenommen, und es gibt in diesem Kontext bereits viel zu lesen – von der als rastlose Reporterin durch Brandenburg streifenden Manja Präkels ebenso, wie von ihren Kolleginnen Tina Pruschmann (Sachsen) und Barbara Thériault (Thüringen). Präkels‘ schrieb dabei zuletzt in der WochenTaz über den Rheinsberger CSD („Unsortiert im Hinterland“) und die Lage in der Lausitz („Sterne fallen über Cottbus“) sowie für das Magazin Soziopolis über die Phänomenologie brandenburgischer Straßen („Zwischen Leere und Tribüne“). Außerdem gab sie mehrere Interviews zu dem Gesamtprojekt, zum Beispiel Vanja Budde für einen Beitrag im Deutschlandfunk Kultur und Michael Bittner für den RosaLux-Pocast Titelstory. Mehr zu und von allen drei Überlandschreiberinnen gibt es hier, auf der Projektwebsite.

Ihr seht, mit Urlaub machen ist es bei uns gerade nicht weit her. Aber immerhin können die lieben Kollegen von DER SINGENDE TRESEN ihre wohlverdienten Ferien genießen und schicken uns – nach dem Motto: Geteilte Freud ist doppeltes Leid – hin und wieder launige Fotogrüße. Na ja, zumindest Koffer packen dürfen wir auch hin und wieder, denn es gibt ja neue …

TERMINE

Sa. 24. August 15:00

Die Kunst, viele zu bleiben – Poetische Postionen

Mit: Manja Präkels, Sivan Ben Yishai, Anne Rabe, Deniz Utlu und Andreas Görgen

Audimax der Bauhaus Universität

Steubenstr. 6

Weimar

 

Fr. 30. August – 18:00

Festrede von Manja Präkels beim Bergen-Enkheimer Stadtschreiberfest 2024 zur Übergabe der Stadtschreiberstelle von Nino Haratischwili an Dinçer Güçyeter

Berger Marktplatz

Bergen-Enkheim

 

Do. 05. September – 18Uhr

Manja Präkels liest ihren Beitrag aus dem Buch „Rechte Gewalt“

Im Rahmen der Opferperspektive-Ausstellung „Todesopfer rechter Gewalt“

Stadtverwaltung Strausberg

Hegermühlenstr. 58

Strausberg

 

Di. 10. September – 19:30

ACHT ORTE – Acht Autor*innen IV – Lesung mit Manja Präkels & Jan Brandt

Deutsches Architekturmuseum Ostend

Henschelstraße 18

Frankfurt/Main

 

Mi. 11. September

PEN Berlin-Gesprächsreihe „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“

Mit: Manja Präkels, Melanie Möller und René Schlott

neue Bühne Senftenberg

Theaterpassage 1

Senftenberg

 

Di. 17. September – 18:00

Rechte Gewalt in Brandenburg – Perspektiven im Lesegespräch mit Manja Präkels, Gideon Botsch und Judith Porath

Regine-Hildebrandt-Haus

Sachsenhausener Str. 1

Oranienburg

 

Do. 19. September – 19:30

Manja Präkels liest: „Welt im Widerhall“

Musikalisch begleitet durch Kollegen von Der Singende Tresen

Burg Ranis

Ranis

 

Fr. 20. September – 16:00

Manja Präkels liest: „Welt im Widerhall“

Im Rahmen des Abschluss-Salons der Ausstellung „Ist die Wende zu Ende?“

Ort: N.N.

Strausberg

Wir könnten noch eine Weile so mit Terminen weitermachen, aber bis hierhin muss es erst mal reichen. Wenigstens ein bisschen Loch soll ja vom Sommer noch übrigbleiben. Außerdem haben wir kürzlich eine Terminbremse in unserem Gesellschaftervertrag verankert, damit wir nicht auf die Idee kommen, zu weit vorauszuplanen. Denn, wie schon irgendeiner unserer Regierungskoalitionäre gesagt hat (oder hätte gesagt haben können): „Was sollen wir uns um die Zukunft kümmern, die Gegenwart ist doch stressig genug.“

Eure geistigen Freibader in der

Gedankenmanufaktur WORT & TON