Innehalten. Umblicken. Auf eine Neues!

Liebe Freunde von WORT & TON,2008 III

kommt gut über die Feiertage und ins neue Jahr, bleibt euch treu und uns gewogen, vor allem aber gesund und munter.

Der folgende Text steht sowohl für das, was hinter uns, als auch das, was vor uns liegt und ist Manjas Beitrag zur Anthologie Vorsicht Volk!, die wir beim fabelhaften Verbrecher Verlag herausgegeben haben. Der Weihnachtsmann hat darin einen Kurzauftritt.

Eure M&M

 

Die Eingeborenen

„Oh, Lord, don’t let ’em tar and feather us! Oh, Lord, no more swastikas! Oh, Lord, no more Ku Klux Klan! Name me someone who’s ridiculous, Dannie. Governor Faubus! Why is he so sick and ridiculous? He won’t permit integrated schools. Then he’s a fool! Boo!“
Charles Mingus, 1957

Bebop promotes Communism!

Im September des Jahres 1957, die Rassentrennung an amerikanischen Schulen war offiziell seit drei Jahren aufgehoben, hinderten weiße Amerikaner neun schwarze Teenager daran, die High School von Little Rock zu besuchen. Gouverneur Orval Faubus, Demokrat und radikaler Befürworter der Rassentrennung, stellte den Wutbürgern die Nationalgarde des Bundesstaates Arkansas zur Seite. Alles sollte so bleiben, wie es war: Die Nachfahren verschleppter, entrechteter Sklaven gehörten nicht dazu, zum Wir-Gefühl in Little Rock, höchstens als Gegenstück, DIE gegen UNS, WIR gegen DIE. Erst das Eingreifen Präsident Eisenhowers führte dazu, dass die „Little Rock Nine“ – ihrem verbrieften Recht nach – die Schule betreten durften. Der Mut dieser jugendlichen Pioniere der Bürgerrechtsbewegung sei gepriesen, bedenkt man die Stimmung jener Zeit, in der sich die „Weißen Ritter des Ku-Klux-Klan“ neu formierten. Einst als nativistische Massenbewegung gegründet sahen sich die Mitglieder des Klans nun in der Rolle der Vollstrecker einer weißen Mehrheit, die die Gleichbehandlung Schwarzer als existenzbedrohend ablehnte. Damn, diese Nigger hatten den Rock ’n’ Roll erfunden! Ein Anschlag auf Nat King Cole ging wegen der Unpünktlichkeit der Attentäter daneben. Ihre wahre Identität hinter Kapuzen verbergend verbreiteten sie, angeführt von ehrenwerten Herren – Pastoren, Richtern und Polizisten – Terror und Angst.

Im Oktober desselben Jahres markierte der erste künstliche Satellit, Sputnik 1, der erfolgreich vom Boden der Sowjetunion in die Umlaufbahn der Erde geschossen wurde, den Beginn einer neuen Ära. Ein Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: „Das planetarische Zeitalter hat begonnen!“ Das dürfte die Mehrheit seiner westdeutschen Landsleute eher in Panik versetzt haben, lautete doch Adenauers siegreiches Wahlkampfmotto 1957, neben „Wohlstand für Alle“, „Keine Experimente!“. Östlich der Elbe, wo Spanienkämpfer Erich Mielke seinen Dienst als Minister für Staatssicherheit antrat und Schauprozesse die Richtung wiesen, sah man das ähnlich. Wenige Monate später rollte der erste Trabant, eine Art „Volkswagen des Ostens“, vom Laufband.
Im Westen, wo man den Tod weniger fürchtete, als den Kommunismus, löste all das den sogenannten Sputnikschock aus, in dessen Folge ein Wettrüsten sondergleichen ein- und jede Verhältnismäßigkeit aussetzte. Die ersten Atomkraftwerke wurden in Betrieb genommen. Radiowellen schossen durch den Äther, initiierten neue Erfahrungen von Körperlichkeit und Rausch. Der Rock ’n’ Roll enthemmte die planetarische Jugend. Und wie stets, wenn Veränderung droht, formierten sich die Hüter der alten Ordnung zum Gegenangriff. Schnulzensänger Freddy Quinn tauchte mit „Heimatlos“ in den Bravo-Charts auf. In der DDR erschien die Musikzeitschrift Melodie und Rhythmus, in der man befand: „Unsere Jugend hat natürlich einen Anspruch auf moderne Musik, sie hat aber auch die Verpflichtung, sich beim Tanzen anständig zu verhalten.“

Die Gefühlsreserven wurden in der wirtschaftswunderlichen BRD in die Leinwandwelt des Wilden Westens verlegt, auf der die Kinogänger der Eingeborenenromantik Karl Mays in Winnetous Wigwam folgten, auf den Rücken ungezähmter Ponys in den Sonnenuntergang ritten, der rote und der „gute weiße“ Bruder miteinander Friedenspfeifen rauchten. Ahnungslos, was die reale Situation der Native Americans betraf (von den Verbrechen an Aborigines, Yanomami, den Inuit und Abermillionen Kolonisierter ganz zu schweigen), deren Lage von Enteignung, Rassimus und Elend gezeichnet war, litten die Zuschauer aus sicherer Entfernung mit den „edlen Wilden“. Westkinder wollten trotzdem lieber Cowboys sein, die im Osten – klar – Indianer. Alles eine Frage des Klassenstandpunktes. Die DDR-Autorin und Historikerin Liselotte Welskopf-Henrich hatte zwar mit ihrer Roman-Reihe „Die Söhne der großen Bärin“ ein kenntnisreiches Bild der nordamerikanischen Indianer geschaffen. Doch letztlich mündete die Sehnsucht der ab 1961 Eingemauerten in „Kulturgruppen für Indianistik“, wo Werktätige nach Feierabend in Mokassins schlüpften und ums Lagerfeuer tanzten.

Das Wunder von Rom

„Für 60 Mark einen Italiener!“ – als Anfang der 1960er-Jahre die westdeutschen Arbeitsämter Außenfilialen in den Ländern des Südens eröffneten, kamen Menschen aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Sie zogen in die boomenden Regionen der BRD, schufteten, gründeten Familien und gingen nicht mehr weg. Die Einwanderer schafften, allen Widrigkeiten zum Trotz, Fakten. Auch die DDR schloss Abkommen mit Bruderländern in Asien und Afrika, zunächst um Fachkräfte auszubilden, dann um die eigene, niedergehende Wirtschaft mit günstigen Arbeitskräften am Leben zu halten. Vietnamen, Mosambikaner, Kubaner, Angolaner und Chinesen lebten meist abgeschottet in abgelegenen Wohnblocks rund um die Industriewerke von Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Erfurt und Ostberlin.

Ende der 1980er-Jahre wurde die Luft in beiden Deutschländern stickig. Die ewigen alten Männer, Kohl und Honecker, verkörperten prototypisch, woran es mangelte. Ihre Gattinnen nicht minder. Auch sah man gleich, wer pleite war. Wer länger durchhalten würde. Honecker reimte: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ Das Bedürfnis der Eingemauerten, laut zu schreien, ihr Weltbegehren und die Ausbruchslust fluteten die Botschaften in Prag und Budapest, die Straßen der Großstädte, Kirchen und Plätze.
Ein Sprechgesang war ihre Hymne: „Wir sind das Volk!“ – die Betonung lag auf dem WIR.
Die emanzipatorische Kraft, die dem zugrunde lag, die Selbstermächtigung der Menschen, die es satthatten im Namen ihrer selbst reglementiert, kommandiert und eingesperrt zu werden, relativierte Kohl salopp: „Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am Arsch des Propheten war und das Regime nicht halten konnte.“ Im Freudentaumel überhörten die Demonstranten in Leipzig und Ostberlin das und vieles mehr. Sie berauschten sich an sich selbst, an der erhebenden Erfahrung, dass die Welt nicht mehr an einer Mauer endete. Und wie immer, wenn unter Deutschen Euphorie und Bier sich vereinen, musste jemand bluten: „Ausländer raus!“
Das „Kapital“ war ein Instrument zum Leute Erschlagen, kein Buch mehr, das man gelesen hatte. Die Leute konnten nicht einmal mehr an den Teil ihrer Geschichte glauben, der wahr war. Diejenigen, die sie gelehrt hatten, waren Zombies. Die unheimliche Beschleunigung, die die Entwicklung mit Schabowskis verblüffender Erklärung zur Maueröffnung am 9. November nahm, tat ihr Übriges.

Der Systemzusammenbruch änderte auch die Situation der Vertragsarbeiter schlagartig. Die rassistische Welle, die die Mauertrümmer übersprang wie ein gewaltiges Lauffeuer, traf sie genauso, wie die einstigen Gastarbeiter in Dortmund, Westberlin und Lübeck. In den Jubel der Brüder und Schwestern in Ost und West mischte sich Brandgeruch. Die Bonner Parlamentarier befeuerten den nationalen Taumel, so gut sie es vermochten. In einer Regierungserklärung erneuerte Einheitskanzler Kohl am 30. Januar 1991 das alte Credo: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland.“

Das Boot war nun voll mit den eigenen Leuten. Als gäbe es nur noch eine deutsche Provinz mit ihren Eingeborenen, die – selbstverständlich – weiß waren. Vermeintlich Fremde duckten sich in den Straßen, Obdachlose versteckten sich, kritische Stimmen wurden als Spinner und Nestbeschmutzer denunziert oder anderweitig mundtot gemacht. Die DDR war verschwunden, ihr Territorium eine Kolonie geblieben. Die Interessen der Bevölkerungen in West- und Ostdeutschland waren so verschieden, wie ihre Zukunftsaussichten. Sie benutzten die gleichen Worte und meinten doch Verschiedenes. Eine Atmosphäre des Misstrauens legte sich wie eine Glocke über das Land. Schon bald war klar, wer Cowboy, wer Indianer war und was wem blühen würde. Außer Landschaft – nichts. Die Ersten, die als Arbeitsmigranten auf der Flucht vor Massenentlassungen in den Westen gingen, waren die Frauen.
Immerhin gab es die Stimmen der Alten, die gemeinsame Angst, das Mitleid mit sich selbst. „Rote raus!“ Im Club der Volkssolidarität füllten sie die Eintrittsformulare für den Bund der Vertriebenen aus. Opa und Omi, die alten Volksdeutschen, streuten später, beim Kaffeetisch hüben wie drüben, ihre Erinnerung in die Köpfe der Kinder. Dem Wunder von Bern folgte das von Rom. „Deutschland, Deutschland über alles.“ Eine Flagge, eine Hymne, kein einziger Ostdeutscher auf dem Platz. Aber WIR waren Weltmeister!

Talkin’ ’bout a Revolution

Mit dem Zusammenbruch der soziokulturellen Strukturen, die im Osten an Betriebe und staatliche Organisationen gebunden waren, die es nicht mehr gab, war eine atemberaubende Verrohung einhergegangen. Die alten Ordnungsprinzipien galten nicht mehr, neue waren noch nicht etabliert. Zukunft war eine Phrase vom letzten Fahnenappell. Anfang der 1990er-Jahre landeten viele mit ihren Abschlusszeugnissen direkt auf den Fluren der Arbeitsämter. Kein Job, kein Geld, keine Ahnung, wie das System funktioniert. Frustrierte Männer jagten, verfolgten, erniedrigten, teils aus Wut, teils im Suff oder aus Langeweile. Vorwärts. Gegen Neger, Juden, Asoziale, Schwule, gegen das Zeckenpack, das nicht gehorchen wollte. Häuser brannten lichterloh. Die meisten Mädchen waren sehr beeindruckt, was nicht unwesentlich dazu beitrug, dass sich der Trend auch bei den Gleichaltrigen im Westen fortsetzte. Entsetzt und aus sicherer Entfernung bewerteten Bonner Beamte das Phänomen als jugendspezifisch.

Wenige Tage, nachdem ein minderjähriger Punker von einer Horde Skinheads erschlagen worden war, schickten sie Jugendministerin Angela Merkel, die Ostfrau in Kohls Einheitskabinett, in einen Magdeburger Jugendklub, in dem auch die Mörder verkehrten. Sie hatte einen Scheck für die Jungs dabei. Ihr Ministerium förderte die „akzeptierende Jugendarbeit“, ein im Westdeutschland der 1970er-Jahre entwickeltes Modell, das zur Integration Drogenabhängiger entwickelt worden war. Jugendliche, die Hakenkreuze auf vietnamesische Imbissbuden schmierten und „Juden raus!“ daneben kritzelten, bekamen die Kahlköpfe gestreichelt. Keine Ansage, keine Bildungsprogramm oder sonstige Hilfe bei ihren offensichtlichen Problemen. Ihr mörderisches Kopfkino wurde akzeptiert, ihre Körper für die Dauer ihres Aufenthalts in den gut ausgestatteten Klubs kontrolliert. So wurden fortan Einrichtungen gegründet und bezuschusst, wo auch immer sich „Brennpunkte“ auftaten. Couragierte zivilgesellschaftliche Akteure und Initiativen mussten hingegen erfahren, dass ihr Mut keine Anerkennung, ihre Arbeit kaum Geld wert war. Einzig ihnen und der Tapferkeit vietnamesischer und türkischer Imbissbuden-Betreiber ist es zu verdanken, dass der Alptraum von den national befreiten Zonen nicht überall in Erfüllung gehen konnte.

Der Gouverneur Orval Faubus jener Tage hieß Berndt Seite, seines Zeichens CDU-Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, ein ’45 aus Schlesien geflüchteter, in der DDR aufgewachsener und ausgebildeter Tierarzt: „Wir wollen kein Einwandererland werden.“
Die Rostocker Wutbürger belagerten das Sonnenblumenhaus im Sommer 1992 so ungehindert, wie die eingeschlossenen Vietnamesinnen und Vietnamesen, Journalisten und Helferinnen vergeblich auf die Feuerwehr warteten, als die Flammen Stockwerk für Stockwerk eroberten. Die Bilder gingen um die Welt. Und kein Eisenhower schickte Militär. Die darauffolgende faktische Abschaffung des Asylrechts war so kalkuliert wie exemplarisch: Eine Generation von Brandstiftern, der Lynchmob, ging Fahnen schwingend als Sieger aus dieser Schlacht hervor. In ihren Kleingartenanlagen, bei den Zwergen, hissten sie die Reichskriegsflagge gleich neben der der Südstaaten. Sie blieben auch weiterhin nicht untätig.

„Merkel konnte nicht mit Messer und Gabel essen.“ Kohls Chauvinismus offenbart ein weiteres, ungelöstes Problem der jüngeren deutschen Geschichte. Dieselbe Überheblichkeit, die Überlegenheitsgefühle, das Desinteresse an den untergegangenen Lebenswelten der Ostdeutschen kreierte ein Bild des rückständigen Zonis, das sich als ebenso nachhaltig erwies, wie die Generalabrechnung der neuen Eliten mit denen der DDR. Wer da wie mit Buschzulagen in die Zone geschickt wurde, zeigt sich am Beispiel Helmut Roewers, zwischen 1994 und 2000 Chef des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. An die Übergabe seiner Ernennungsurkunde konnte der sich nach durchzechter Nacht nicht mehr erinnern. Der Rest seiner Amtszeit war von Exzentrik, unverhohlener Verachtung gegenüber der thüringischen Provinz, ihren Bewohnern und eklatanten Fehleinschätzungen im Umgang mit Neonazis geprägt. Verdächtige wurden gewarnt.
Die Ostdeutschen waren noch voll beschäftigt mit dem Studium ihrer Stasi-Akten, als unter Roewers Verantwortung freie Kameraden des Thüringer Heimatschutzes angeworben und fürderhin mit Geld versorgt wurden. Geld, das eine Struktur finanzierte, die letztlich den NSU hervorbringen sollte, eine Bande von rassistischen Mördern, die unbehelligt wüten durften, weil Ermittlungsbehörden das Naheliegende nicht erkannten, nicht erkennen wollten oder durften.

Nur in den allerseltensten Fällen, wie dem der heutigen Bundeskanzlerin, geriet der Nachteil der ostdeutschen Herkunft zum Vorteil. Daran dass Angela Merkel doch mit dem Messer umgehen kann, erinnerte sich der Altkanzler später jedes Mal, wenn er seine Wunden leckte. Er hatte sie schlichtweg unterschätzt.

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Die Mulde ist nicht der Mississippi. Und doch verbrannte am 7. Januar 2005 Oury Jalloh in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers bei lebendigem Leibe. Die Aufklärung der Todesumstände ist eine juristische Farce, die seit Jahren andauert. Nur aufgrund des Engagements von Freunden, Journalistinnen und Aktivisten wird überhaupt in Zweifel gezogen, dass er sich selbst angezündet hat. Ein an Händen und Füßen gefesselter Mann aus Sierra Leone starb allein unter weißen Beamten. In derselben Zelle war schon einmal ein Mann tot aufgefunden worden. Der Obdachlose Mario Bichtemann hatte einen Schädelbasisbruch erlitten.

Seit 2013 die rassistische Mordserie des NSU vor dem Münchner Oberlandesgericht verhandelt wird, starben drei wichtige Zeugen. Der Prozess beleuchtete zudem Verbindungen zwischen den Tätern, baden-württembergischen Verfassungsschützern, Polizisten und dem deutschen Ableger des Ku-Klux-Klans.

Ein Vierteljahrhundert ist seit dem 3. Oktober 1990 vergangen. Maßgebliche Kräfte in Politik, Exekutivapparat und Justiz haben die Grenze zwischen rassistischen Terror und der sogenannten Mitte vor aller Augen und Ohren durchlässig gemacht. Sie haben rechtsextreme Strukturen mit aufgebaut, finanziert, gedeckt und verharmlost. Die Auswirkungen dessen lassen sich im ganzen Land bestaunen.

Provinz ist überall in Deutschland. Entlegene Landstriche bieten perfekte Bedingungen für die Hüter deutscher Tugenden, Frauen und Männer, die ihre Kinder mit Esoterik und Rassismus zu Volksdeutschen erziehen. Das gilt in Mecklenburg wie in Bayern. Räume ohne Volk, verlassene Dörfer, aufgegebene Regionen.
In den Vorgärten der Reihenhäuser im Rhein-Main-Gebiet, wo die Fassade der Bürgerlichkeit vieles zu kaschieren vermag, argumentieren erhitzte Gemüter aus denselben Gründen gegen „Flüchtlingsströme“ wie in Frankfurt an der Oder. Aber die Unfähigkeit, der Angst vor Armut zu begegnen, Konflikte auszuhalten (und sei es den Fleck auf der Gardine), das eigene Denken infrage zu stellen, ist allen gemein und macht sie gemein mit den Mörderinnen und Mördern, mit den Brandstiftern. Rassismus und Chauvinismus treiben allerorten neue Blüten. Nicht immer lässt sich das auf den ersten Blick erkennen.

Pegida, AfD, Nein zum Heim. Das ist kein Spuk. Manches verschwindet wieder zurück unter den Asphalt, ins Wohnzimmer, die Badewanne. Ein paar freilich werden die Wärme vermissen, die Geborgenheit und Stärke, die sie bei den Demonstrationen erfahren haben, als alle gemeinsam „Wir sind das Volk“ riefen. Die Betonung lag diesmal auf „Volk“. Die Untoten werden weiter stochern, jagen, morden und abbrennen. Sie gehören ins deutsche Wohnzimmer wie der Weihnachtsmann. Wir können uns ein Fest ohne ihn so wenig vorstellen, wie ein Land ohne sie. Die lassen sich nicht so einfach abknallen wie die Wölfe oder Flüchtlinge. Es erscheint uns einfacher, mit ihnen zu leben als gegen sie. Weil wir sie schließlich kennen, im Gegensatz zu all den anderen, die da draußen, im unbestimmten Fremden leben. Die Furcht vor deren Elend ist größer, als die vor den Mördern am eigenen Tisch.

So erschreckend die neuerliche Welle von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, antisemitischen Übergriffen und Ausfällen auch sein mag, so wenig überrascht diese Entwicklung all jene, die lieber von Bevölkerung als von Volk sprechen. Flüchtlinge ermächtigen sich selbst, Willkommensinitiativen wachsen auch und gerade da, wo sie am dringendsten benötigt werden. Linke und grüne Abgeordnete lassen sich von zerschlagenen Bürofenstern nicht einschüchtern, Kriegsflüchtlinge und von Zwangsräumungen Betroffene organisieren ihren Widerstand gemeinsam. Neighbours unite!

Es gibt kein Zurück. Wir Eingeborenen – Planetarier, für immer an Ort und Zeit unserer Geburt Gebundene – treten alle dieselbe Reise an, ganz egal, ob wir uns bewegen oder nicht. Keiner von uns will leiden, hungern, frieren, sterben. Alle haben Angst.

„Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond.“
Mascha Kaléko