Hiobs Reisen mit Musik

oder

Rosinantes letzte Fahrt

Freitag, 01. August 2014

Der Wecker klingelt lange vor dem Aufwachen. Die Hirne schalten auf Autopilot: Kaffee kochen, Suchen nach Kabeln, Kleidern, Koffern. Einer schmiert Stullen, einer packt ein. Auf dem Weg nach unten, vier Stockwerke, verwandeln sich zwei Halbschläfer in „Fahrer“ und „Beifahrerin“. Noten vergessen. Die Beifahrerin dreht um. Der Fahrer holt „Rosinante“, das treue, wenn auch gebrechliche Gefährt direkt aus der Werkstatt. Eintreffen der Gefährten. Ladevorgang. Los.

Stau bis zur Stadtgrenze. Inzwischen ist es 12 Uhr mittags. Berlin hockt unter eine Mütze aus Hitze und Gestank, brät leicht hysterisch vor sich hin. Still beweinen die Passagiere das Fehlen einer Klimaanlage. Dann endlich sind wir raus aus der Stadt. Und es hat nur drei Stunden gedauert! Kurz vor Cottbus ist die Hälfte der Crew, sauerstoffunterversorgt und schwitzend, in den Schlaf geflüchtet. Fahrer und Beifahrerin starren apathisch auf den vor ihnen liegenden Teilabschnitt Richtung Wrocław. „Die längste Treppe der Welt.“ Rosinante quietscht, holpert, rumpelt. Nach weiteren hundert Kilometern verändert sich der Klang im Innern des Fahrzeugs. Das zuvor bereits ohrenbetäubende Stampfen des Motors ist um ein dunkles Grollen ergänzt. „Der Auspuff wieder.“ „Ja.“ Keine unbekannte Situation, kein Grund zur Sorge also. Oder? Die erste Ratstätte auf polnischem Boden verscheucht alle Zweifel und versöhnt die Gefährten mit ihrem Schicksal: Hot Dogs und Pelmeni. Rosinante bekommt eine 1A-Scheibenwischung und das teuerste unter den Motorölen verpasst. Der optimistische Gitarrist ruft: „Yeah, Rock´n Roll.“

Gegen 16 Uhr landen wir auf Höhe Wrocław in einem Megastau. Urlauber aus Großbritannien, Dänemark, Süddeutschland und Holland starren sich gegenseitig aus ihren klimatisierten Familienautos an, werden dabei von Brummi-Fahrern aus Westpolen, Russland, der Ukraine und Weissrußland von oben herab betrachtet. Was machen die nur alle hier? Dazwischen Rosinante, ächzend, schwitzend. Der Fahrer hebt das Rauchverbot auf. Auch voll heruntergekurbelte Scheiben bringen keine Abkühlung, nicht, solange Rosinante nicht rollt und nicht für die auf den hinteren Plätzen. Klarinette und Tamburin flüchten erneut in den Schlaf. Die Beifahrerin singt, angestachelt vom optimistischen Gitarristen, leise vor sich hin: „Hey, ho, let´s go!“ Alles steht.

Gegen 18 Uhr geht es weiter, Kraków nähert sich unaufhaltsam, aber nein, die Stadt vor Augen versinkt das rollende Ensemble in einer exakten Wiederholung des zuvor geschilderten Dilemmas. Dieselben Gesichter ziehen aneinander vorüber, mal links, dann rechts, ganz außen die stoischen Berufsfahrer, dazwischen schmorende Musikanten ohne Fahrtwind. Die Sonne steht noch hoch am Himmel. Wieso eigentlich? Es ist Abend! Gottverdammt wir sind bereits den ganzen Tag unterwegs! Wer hatte nochmal behauptet, für die Strecke bräuchte man heutzutage nicht mehr als sieben Stunden? Was ist mit dem Rock´n Roll los? Stumm wächst die Wut im Innern der tapferen Rosinante, die ohrenbetäubend vor sich hintuckert, als gebe es kein Ende, von gar nichts, nie wieder. Der optimistische Gitarrist folgt Klarinette und Tamburin in den Schlaf. Der Fahrer beginnt, zwei Zigaretten gleichzeitig zu rauchen. Die Sängerin stimmt stumm paffend mit ein. Der Soundtrack von „Easy Rider“ entfaltet erst in Momenten wie diesen seine wahre, aufrührerische Kraft. „But the pusher don’t care /Ah, if you live or if you die.“

Als sich der Stau endlich anschickt sich aufzulösen, ist die Sonne untergegangen. Alle werden wach: „Sind wir da?“ „Ich hab Hunger.“ „Ich glaub, ich muss kotzen.“ Die Beifahrerin zückt unbeirrt die Wegbeschreibung, die noch am Morgen eilig vom Gastgeber per E-Post angekommen war. Unfassbar, diese Geschwindigkeit auf virtuellen Autobahnen.

„Wir müssen hier raus!“
„Quatsch.“
„Was, aber hier ist doch Krakau?“
„Wir sind aber nicht nach Krakau eingeladen, sondern in ein Ferienhaus BEI Krakau.“
„Ist es noch weit?“
„Woher soll ich das wissen?“

Rosinante, die weder über ein Navigationsgerät noch einen funktionierenden Auspuff verfügt, quält sich einen nunmehr leeren, schier endlosen Highway Richtung Osten entlang. Die in der Wegbeschreibung angegebene Ausfahrt scheint von den Polen heimtückisch plattgemacht worden zu sein.

„Wir sind zu weit!“
„Wenn wir so weitermachen, sind wir inner Stunde drüben, in der Ukraine.“
„Hatten wir nicht mal ’ne exakte Polenkarte?“
„Ja, aber da stehen die Orgel, das Schlagzeug und alle Verstärker oben drauf.“
„Wir müssen umdrehen.“

Der Fahrer ist gefährlich still geworden. Mit weit aufgerissenen Augen stiert er den Lichtkegel an, der die sonst unbeleuchtete Landstraße anschummert.

„Wo sind wir hier? Mach doch mal Licht an!“
„Das IST das Fernlicht!!!“

Der Fahrer verliert endgültig jede Contenance. Vollbremsung. Rosinante schreit laut auf. Türenknallen. Rauchen! Der in der Not per Handtelefon zu Hilfe gerufene Gastgeber ist überaus belustigt. „Ihr seid ja viiiiieeel zu weit…“ Sein Versuch, uns per Ferndiagnose über ein Gewirr kleiner und winzigster Schlängelwege durch die Vorläufer der Beskiden an den Ort des Geschehens zu lotsen („Was, ihr habt kein TomTom?!“) führt Rosinante in der Folge auf verlassene Höfe mit fiesen Kettenhunden, Steilhänge hinauf, durch sandige Obstplantagen hinab und schlussendlich tatsächlich nach Leśniakówka. Im Mondschein taucht eine Scheune auf, leuchtend, warm und hell. Die unbezwingbare Freundlichkeit unserer Gastgeber, gepaart mit herrlichstem selbstgebrannten Wodka und Spezialwürsten aus der Gegend versöhnen uns augenblicklich mit allen Strapazen. Eine sternenklare Nacht wäscht auch alten Ärger fort. Willkommen im Paradies.

Sonnabend, 02. August 2014

Es ist Sonnabend, die Welt erscheint uns im Weichzeichner. Ein Eichhörnchen verkündet, von Baum zu Baum hüpfend, ewigen Frieden. Die Natur und fleißige Hände haben einen Frühstückstisch mit allem Beladen, was in der Gegend wächst und bekömmlich ist. Die Gefährten wähnen sich in einer Wolke aus Glück und Poesie. Das Gras kribbelt zwischen den Zehen, Sonne wärmt die Häupter, Worte in verschiedenen Sprachen füllen die Herzen, bedeuten Freundlichkeit, dienen dem Wunsch nach Verständigung. Weitere Gäste treffen ein, setzen sich unter Apfelbäumen ins Gras, trinken Tees, genießen die Aussicht. Der Fahrer hat sich in einen lächelnden Uhu verwandelt, Tamburin und Klarinette sind zum platonischen Doppelwesen verschmolzen, der optimistische Gitarrist meditiert auf der Wiese grashüpfergleich am Instrument. Die singende Beifahrerin läuft barfüßig über das Gelände und sammelt Nacktschnecken ein, so, dass sie nicht zertrampelt werden können. Die Großstädter versinken im Rausch der polnischen Gastlichkeit und Landschaft.

Das Wohnzimmerkonzert soll in der offenen Scheune stattfinden, die liebevoll restauriert und bis unters Dach mit Krimskrams aus allen Jahrzehnten vollgestopft ist. Wir stellen die Instrumente und Verstärker auf alte Stühle, neben Küchenmöbel, Bettgestelle und Bücherkisten. Es könnte die Kulisse für die Liebesszene in einem Tim Burton-Film sein. Spinnen und Antiquarisches – dazwischen Pheromone. Wir würden die Filmmusik beisteuern, live. Zwei Katzen streichen abwechselnd an unseren nackten Beinen entlang, gemahnen zu Ruhe und Tiefenentspannung. Bevor die Feier beginnt, legen wir uns nochmal auf´s Ohr. Die Zimmer riechen nach Holz und Sonne. Als es Abend wird, werden die Gefährten vom vielstimmigen Singsang der Geburtstagsgäste geweckt. Gläserklirren, Kinderlachen. Die polnischen Wirtinnen, elfengleiche Wesen mit roten Lachmündern, tragen Krüge umher, reichen frisches Brot und Biere. Unser Freund, das bärtige Geburtstagskind und seine Herzallerliebste schauen sich, Händchen haltend, verliebt in die Augen. Es ist zu schön, um nur dabei zu stehen. Der optimistische Gitarrist reicht grinsend Schnäpse in die Runde der Musikanten: „La’Chaim! Auf das Leben!“

Als genügend angestoßen, gewünscht und beschenkt worden ist, sind wir an der Reihe, dem Abend etwas Feierliches hinzuzufügen. Wir haben deutsche, jiddische und englische Lieder im Gepäck, die Zuhörer sitzen auf Bänken und Stühlen bei Kerzenschein, draußen kann man den Sternenhimmel sehen. Ein polnischer Großvater setzt sich zu uns an den Bühnenrand, schaut auf unsere Hände und Münder, er versteht. Später, in der Pause, wird er sich an die Partisanen erinnern, die einst in der Scheune schliefen, nebenan auf der Wiese an Waffen ausgebildet wurden für den Kampf gegen die Deutschen. „Ihr habt heute Nacht böse Geister verjagt.“ Wir wollen es ihm glauben, trinken mit ihm und seinen Töchtern auf den Weltfrieden, spielen noch ein paar Liedchen. Der lächelnde Uhu übersetzt in Kurzzusammenfassungen, und als er schließlich ans Mikrofon tritt, um die Menschen mit seinem Gesang zu beglücken, wankt das Publikum zwischen Entsetzen und Entzücken. Rock´n Roll, da biste wieder! „Das war wunderbar“, seufzt der optimistische Gitarrist mit traurigen Augen, draußen, nach dem Schlussapplaus. Unausgesprochen bleibt die Frage, warum sich das Wirkliche manchmal unwirklich anfühlt.

und alle (c) gabi seltmannEs ist spät geworden. Die Gästeschar verteilt sich auf dem Gelände des kleinen Paradieses, die Deutschen hocken am Lagerfeuer, auf der kleinen Terrasse am Steingarten wird polnisch geredet. Unser Uhu beschließt lächelnd, da er sich am folgenden Tag wieder in einen Fahrer verwandeln muss, dem Schnapse abstinent zu bleiben und stattdessen eine Friedenspfeife zu rauchen. Als er geschickt und nach alter Sitte zu stopfen beginnt, meldet sich doch noch ein böser Geist zu Wort, oder ist es das, was die Araber kismet nennen? Ein lockerer Pflasterstein, ein bisschen Hin- und Hergeruckel: Dem Uhu bleibt keine Zeit mehr, solche Glaubensfragen zu erörtern, denn da rollt er schon – holterdiepolter – mitsamt Stuhl die steile Böschung hinab. Im Flug versucht er sich an etwas schönes, weiches zu erinnern, oder wenigstens die Fallschule, damals, bei der Freiwilligen Jugendfeuerwehr. Der Sturz endet mit einem harten Aufprall, Kopf trifft Ziegelstein. Für einen kurzen Moment scheint die Zeit still zu stehen, niemand spricht, alles schaut. Das ist das blanke Entsetzen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … „Hilfe!“ Aufgeregt quietschend eilen ihm, dem zu Boden gestreckten, Beine entgegen. Hände tätscheln, Stimmen säuseln. Als er die Augen wieder öffnet, macht sich Erleichterung breit. Zusammengekauert und mit angeschlagenem Schädel, ringt er um Haltung: „Hui, das war überraschend!“ Den Rest der Feier wird der arme Uhu, umschmeichelt von einem fürsorglichen Kätzchen, auf einem der Bettgestelle in der Scheune hocken, einen Beutel gefrorener Blaubeeren an seinen Schädel pressen und sich Fragen stellen lassen. „Geht es gut?“ „Kopf kaputt?“ „Brauchst du Hilfe?“ „Willst du Schnaps?“ Und sowohl das Nicken als auch das Schütteln des Kopfes vermeidend, wird er lächeln. Die andern Musikanten leisten ihm dabei Gesellschaft. „Ich besorg‘ nochmal Blaubeeren für den Käpt´n.“ „Haha!“ Gute Nacht.

Sonntag, 03. August 2014

Am nächsten Morgen bleibt gerade genügend Zeit für des Uhus Selbstdiagnose: Fahrer lebt, leichter Kopfschmerz, stärkere Beschwerden beim Kauen. Zwei Hämatome, leichte Platzwunde. Ansprechbar. „Fahrtauglich!“ Somit kann er das opulente Frühstück nur in Maßen genießen, dafür verzehrt der optimistische Gitarrist gleich zwei Portionen Blutwurst. Klarinette und Tamburin kauen, ein sprunggewaltiges Eichhorn beobachtend, genüsslich vor sich hin. Die Koffer sind gepackt. Aber wer will schon das Paradies einer Autobahnfahrt wegen verlassen? Herzliche Umarmungen, freundliche Gesten und liebenswürdige Worte begleiten die Gefährten und ihren fahrbaren Untersatz, Rosinante, noch bis zur Obstwiese. Dann wenden sich die Blicke wieder gen Westen. Es ist bereits Mittagszeit, die Sonne brät, der Fahrtwind kühlt ein bisschen.

rosi and me (c)gabriela seltmannKurz hinter Kraków, Richtung Wrocław, haben alle wieder ihre gewohnte Position eingenommen. Die hinteren Reihen schnarchen, vorne hört´s Verkehrsfunk und polnische Schlager. „Läuft doch.“ Der in einen Fahrer verwandelte Uhu mit Kopfschaden strahlt Zuversicht aus. Der optimistische Gitarrist erzählt indessen Anekdoten aus seiner traurigen Kindheit in Odessa. Der Verkehr fließt, am Himmel ziehen Wolken auf und verhindern, dass wir erneut im eigenen Sud zu kochen beginnen. Der Gitarrist verstummt. Stattdessen ist die Klarinette wach geworden und liest in einer linksradikalen Broschüre. Schon auf der Hintour war uns aufgefallen, dass auf Höhe Gliwice die polnische Bundestraße 88 abzweigt. Erneut wundern wir uns über den hinterhältigen Humor des Weltgeistes, passieren Ort und Abfahrt, lassen Gleiwitz und Route 88 rechts liegen. „Feuer.“ Die Beifahrerin meint einen Moment lang, jemand hätte „Feuer“ gesagt. Mit einem ungläubigen Grinsen blickt sie über die linke Schulter ins Fahrzeuginnere, von wo der Klarinettist zurück starrt und heiser flüstert: „Feuer“. Zunächst sind da nur kleine Fetzen Rauchs zu sehen, doch dann erfüllt eine dicke, stinkende Rauchwolke das Fahrzeuginnere. „Anhalten! Rechts ran!“ Der Fahrer geht in die Eisen, Rosi landet schreiend auf dem engen Randstreifen. Während die Urlauber auf dem Highway ungebremst an ihnen vorbei rasen, versucht der Klarinettist die Schiebetür aufzuziehen. „Es klemmt!“ Panik, stumme Schreie des Entsetzens verlassen den offen stehenden Mund des optimistischen Gitarristen. Alles verschwindet im Nebel. Hat jemand das Tamburin gesehen? Die Beifahrerin zieht von außen an der Tür, die Klarinette springt todesmutig von innen dagegen. Es kracht gewaltig, der singende Sozius fängt die herausfallende Seitentür auf und stellt sie – zum Entsetzen des Uhus – an den Straßenrand. Beide helfen den Gefährten Rosinante zu verlassen, die ihrerseits langsam zu qualmen aufhört. Alle entfernen sich sicherheitshalber und blicken abwechselnd auf Rosis Hintern und die herausgetretene Tür. „Was war DAS?“
Wenige Schrecksekunden später bemühen sich die Musikanten, den Herd des Unheils ausfindig zu machen, wozu sie Schlagzeugteile, Verstärker, Decken, Krimskrams, verschiedene Koffer und den vollen Benzinkanister aus dem Inneren Rosinantes bergen und auf den schmalen Randstreifen schleifen müssen. „Nichts. Hier brennt nichts.“ Der Uhu springt auf den Fahrersitz und kommandiert: „Alle hinhocken. Ihr guckt jetzt, wo der Qualm herkam.“ Nach kurzem Startversuch wird deutlich, dass Rosi einen neuen Auspuff benötigt. Der alte ist an einer Stelle unterhalb der hinteren Radaufhängung komplett durchgebrochen, so, dass die Abgase direkt ins Fahrzeuginnere drücken. „Ich ruf den ADAC an. Den gibt’s doch auch in Polen.“ Kaum ausgesprochen verdüstert sich der Himmel, bricht mit Blitz und Donner ein gewaltiges Unwetter über die Reisenden herein. Das Gepäck landet flugs wieder in Rosi, die noch immer nach Abgasen stinkt, aber wohin sollten sie ausweichen, an dieser vielbefahrenen Autobahn hinter Gliwice? Der Gitarrist verliert seinen Optimismus. „Das Gewitter…“, flüstert er mit bedeutungsschwerer Stimme. „Gestern habe ich vom weißen Licht geträumt.“ Wer will es ihm verübeln. Scheiß auf den Faradayschen Käfig! Wenn die Tür herausgebrochen ist, siegt die Furcht über den Verstand. Lustig ist das Musikantenleben, fürchterlich und voller Überraschungen. Als das Gewitter weiterzieht, nähert sich von hinten ein gelber Abschleppwagen. Lang lebe der Allgemeine Deutsch-Polnische Automobilclub!

Der freundliche Mechaniker streckt uns wortlos einen Schlüssel entgegen. Wir besteigen verdutzt sein Privatauto und folgen dem Abschlepper, auf dem Rosinante nun verschnaufen darf. Hallo Gliwice, wir kommen in Frieden! Die Werkstatt ist geschlossen, klar, es ist Sonntag. Der gelbe Engel streckt den Arm aus und zeigt auf ein kleines Hotel. Achselzuckend nehmen wir, die wir dem Tod gerade noch von der Schippe gehüpft sind, es hin, räumen die Koffer aus Rosinante und tragen sie in die Gastwirtschaft. Nach einer kurzen Dusche, einem Telefonat mit dem ADAC („Ja, wir übernehmen die Hotelkosten.“) und dem gründlichen Studium der Speisekarte beschließt das Ensemble, dem Leben mit einer kleinen Sause zu huldigen: „La’Chaim!“

Montag, 04. August 2014

Der Wecker klingelt vor dem Aufwachen. Um 07:00 Uhr öffnet die Werkstatt. Noch zum Frühstück sind alle vergnügt, winken Rosinante hinterher, die aufgrund ihres biblischen Alters an einen anderen Ort geschleppt werden muss, der sich vermutlich in der Nähe eines Schrottplatzes befindet. Als es Zwölf schlägt macht sich erneut Entsetzen breit. „Was, wenn die längst über die ukrainische Grenze…“ „Wir hätten die Instrumente rausnehmen sollen.“ „Hier gehen die Uhren eben anders.“
Der optimistische Gitarrist meditiert erneut am Instrument. Die Klarinette steht mit gerecktem Hals am Straßenrand, schaut mal in die eine, dann in die andere Richtung. „Wenn man wenigstens wüsste, wo sie herkommt!“ Gegen 16 Uhr beginnt der Uhu sich in ein Rauchtürmchen zu verwandeln, er qualmt unablässig, dabei Flüche ausstoßend. Die ersten Kurzmitteilungen von genervten Chefs treffen ein, denen die Absage „Sitzen wegen Auspuffschadens seit 24 Stunden in Gleiwitz fest“ an einem Montag im 21. Jahrhundert nicht recht einleuchten will. Eine Stunde später wirft sich die Klarinette freudestrahlend dem verblüfften Tamburin an den Hals. „Rosinate!“ Es ist früh am Abend und uns trennen lächerliche 480 Kilometer von Berlin. Die Fahrt wird kühl, es dröhnt nicht mehr, nun ruckelt´s. Die Tür lässt sich ja nicht schließen. Wer es hinbekommt, schläft, die anderen erstarren. Ab und an ächzt der Uhu auf. Ein gutes Zeichen, wenn der Fahrer noch wach ist.

Um Mitternacht ist im topsanierten Prenzlauer Berg kein Parkplatz zu finden. Das Equipment muss aber noch um- und ausgeladen werden. Da, ein Parkplatz! Nur 3 Kilometer vom Hausflur entfernt! Es gelingt den Gefährten mit vereinten Qualen die herausgetretene Tür abzuschließen. Sie schleppen das Zeug schließlich wortlos wie beladene Kamele die endlose Strecke bis nach Hause. Buddha hätte seine Freude an ihnen. Buddha hat ein Arschloch aus Gold.

Dienstag, 05. August 2014

06:00 Uhr
Eine Kreissäge tobt im Hinterhof. Immer, wenn der Bauarbeiter kurz absetzt, klingt es Polnisch aus einem Transistorradio gegenüber. So ein Luxusbau ist ohne die freundlichen Nachbarn nicht zu machen. Lang lebe die Unbeirrbarkeit polnischer Handwerker! Tamburin und Klarinette, dem Gemetzel am Bau direkt gegenüber wohnend, entscheiden spontan, auf´s Land zu ziehen. „Wir können nicht mehr.“ Die Fahrt scheint sie irgendwie traumatisiert zu haben. Während die beiden fluchtartig mit ersten Koffern das Haus verlassen, schlurft einer der Bauarbeiter, in einem Kaffee rührend, ungläubig an den beiden vorüber. Diese Deutschen. Immer eilig. Immer im Stress. Die Bewohner des Vorderhauses sind an diesem Morgen zunächst vom Lärm verschont geblieben. Müde schlägt der Uhu seine Augen auf. „Komm, lass uns liegen bleiben.“ Die Sängerin beobachtet zwei knutschende, graue Stadttauben auf dem Fensterbrett und erschrickt, als die beiden panisch aufflattern. Die Kreissäge hat wieder eingesetzt. „Ja, is so romantisch hier.“ Der optimistische Gitarrist hockt derweil zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt in seinem winzigen WG-Zimmer und kratzt sich am Kopf. „Scheiße.“ Am Abend steht das nächste Konzert an. Fast hätte er es vergessen.