WORT & TON im November/ Dezember 2020

Liebe Freunde von WORT & TON,

nun ist sie also vorbei, die Zeit, in der wir uns bei der morgendlichen Presseschau mit Prozentzahlen aus US-amerikanischen Bundesstaaten von den steigenden Corona-Fallzahlen hierzulande ablenken konnten. Wirklich unterhaltsam oder gar Optimismus stiftend war das zwar nicht, aber immerhin mal was anderes. Tatsächlich mutete die Auszählung der Wahlstimmen zwischenzeitlich reichlich asymptotisch an, weshalb man sich – genau wie bei den Coronazahlen – irgendwann gar kein Ende des Prozesses mehr vorstellen konnte. Tage um Tage verstrichen, bis Bundesstaaten wie Alaska (rund 800.000 Einwohner) oder Nevada (rund 3 Millionen) ein belastbares Endergebnis verkünden konnten. Seltsamerweise aber nahm die Frage, was genau eigentlich so schwer daran sein soll, ein paar Zettel zu zählen, in der Wahlberichterstattung deutlich weniger Platz ein als die teilweise sekündlich rausgeschossenen Trump-Tweets. Obwohl diese doch inhaltlich eine – nun ja – eher bescheidene Variabilität aufwiesen: Ich bzw. wir habe(n) gewonnen oder werden gewinnen / die anderen haben betrogen, schlimm betrogen, megamäßig betrogen / stoppt die Auszählung sofort / stoppt die Auszählung bloß nicht / ich verklage alles und jeden / Melania findet auch, dass ich gewonnen habe usw. – Das alles natürlich immer in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen überreich garniert.

Parallel knauserten die Wahlergebnisse nicht nur mit Ausrufezeichen, sondern sogar mit Prozentpunkten, weshalb einem irgendwann im Vergleich mit Trumps ebenso pausenloser wie rasend schneller Twittertipperei unwillkürlich der Gedanke kam, ob man das Auszählen nicht vielleicht besser ihm hätte überlassen sollen. Das wäre a) mit Sicherheit deutlich schneller gegangen und hätte b) ein anderes Ergeb… okay, lieber doch im Schneckentempo. Hat ja auch Vorteile. Beispielsweise verdanken wir dem amerikanischen Auszählsystem inzwischen einen ganz neuen Wissenschaftszweig: die Transzendenzmathematik. Ein faszinierendes Forschungsfeld, das sich um die Arbeitshypothese konstatiert hat, dass es in der Prozentrechnung irgendwo zwischen 94 Prozent und 100 Prozent ein schwarzes Loch geben müsse, dessen enorme Masse die einzelnen Prozente so stark anzieht, dass es nahezu unmöglich ist, vom einen Wert auf den anderen anzuwachsen …

Wie auch immer, nun scheint die Wahl doch vorbei. Also wenden wir uns (zumindest vorerst) wieder von den wutschäumenden und waffenwedelnden Trumpisten in den USA ab und mit gleichem Grausen unserer hiesigen Verschwörungsmelange aus Esoterikern, Rechtsextremen, sozialdarwinistischen Liberalen, Neomonarchisten und psychopathogenen Bio-Schwaben zu. Diese (Haken-)Kreuz- und Querdenker nämlich können (oder wollen) zwar die Covid-19-Infektionskurven nicht richtig lesen, zeigen aber ihrerseits bei Demonstrationen im ganzen Land, dass nicht nur Viren, sondern auch wahnhafte Weltbilder höchst infektiös sein können. Selbst Richter scheinen davon zuetzt immer häufiger erfasst zu werden. Anders ist es kaum zu erklären, dass regelmäßig Demos, bei denen bereits im Vorfeld klar ist, dass die Teilnehmer massiv gegen die Hygieneregeln verstoßen werden, zugelassen werden, während man gleichzeitig Versammlungen untersagt, bei denen völlig pandemiekonform etwa der Reichpogromnacht gedacht werden soll.

Ob auch die bei bei den Corona-Demos eingesetzte Polizei vorab mit pandemischer Querdenkerei infiziert wurde, ist noch unklar. Vermutliche aber besteht die Schnittmenge zwischen Demonstranten und Polizisten wohl eher in der Leidenschaft für verfassungsfeindliche Symbole, das Grölen des Horst-Wessel-Lieds o.ä. Das lassen jedenfalls die gerade festgestellten 1.205 bedauerliche Einzelfälle allein in Nordrhein-Westfalen vermuten. Solche ideologischen Gemeinsamkeiten führen dann wohl dazu, dass die “Sicherheitskräfte” es achselzuckend als “Friendly Fire”-Unglück verbuchen, wenn neben Pressevertretern und Passanten auch mal sie selbst angegriffen werden, wie unlängst in Leipzig oder Frankfurt geschehen. Die Wasserwerfer und Knüppel dagegen bleiben auch in solchen Extremsituationen für linke Gegendemonstranten reserviert – Ehrensache. Wäre sonst ja auch wirklich allzu quergedacht …

In einem immerhin haben die Corona-Leugner, -Skeptiker oder -Verniedlicher (wie immer sie gerne genannt werden möchten, wir sind da nicht so) zweifellos recht: Der neuerliche “Lockdown”, Anfang des Monats verkündet wurde, ist ein schlechter Witz. Allein der Begriff “Lockdown Light”, bei dem einem sofort der Werbeslogan “Ich will so bleiben wie ich bin – Du darfst!” durch den Kopf geht, ist schon lächerlich. Und natürlich ist es bizarr, dass man weiterhin durch Shopping-Malls und Technikmärkte flanieren darf, nicht aber durch Museen, obgleich bei letzteren die festgesetzten zehn Quadratmeter pro Besucher nicht auch noch mit Regalen zugestellt sind. So richtig absurd wird es aber, wenn man sich klarmacht, dass außer Gastronomie, Kultur und Fitnessstudios nahezu alle Bereiche des Lebens weitergehen wie bisher. Und damit wir uns richtig verstehen: Absurd ist dabei nicht das Schließen, sondern das Nicht-Schließen.

Wenn nun die Gastronomen tönen, dass sie doch “alles getan hätten”, um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten, dann – stimmt das einfach nicht. Sicher, es gab in dem Radius, in dem wir uns bewegen, ein paar verantwortungsvolle Läden. Den Südblock beispielsweise oder das Clash im Mehringhof. Die aber waren von Anfang an in der Minderheit. Wer in den letzten Monaten offenen Auges durch Berlin lief, konnte sehen, wie die anfangs brav auseinandergestellten Tische Tag für Tag wieder näher rutschten, mehr wurden. Wie die Leute im Service schon bald dazu übergingen, ihre Masken vorwiegend unterm Kinn zu tragen, wie Gäste die ihren völlig selbstverständlich auf dem Tisch liegen ließen, wenn sie zur Toilette gingen, und wie es am späteren Abend überall zu besoffenen Rudelbildungen am Tresen kam. Die heiß diskutierten Besucherlisten? Wurden von vielen Restaurants und Kneipen in unserem direktem Umfeld zu keinem Zeitpunkt geführt. Punkt. Keine Pointe.

Ach doch, ein Witz fällt uns da schon noch ein. Nämlich der von zahllosen Gastronomen und Kinobetreibern laut herauskrakelte und von der BILD zur Schlagzeile erhobene Verweis darauf, dass die meisten Infektionen doch in Privatwohnungen stattfänden und nicht in der Gastronomie oder im Kino. Den fanden wir ziemlich gut. Denn bekanntermaßen sind einerseits inzwischen rund 78 Prozent aller Infektionen überhaupt nicht mehr ermittelbar (in Berlin jetzt sogar 94 Prozent) und kommt andererseits so ein Virus gewöhnlich nicht aus der Steckdose. In die Privatwohnungen wird es von Menschen gebracht, die es sich anderswo eingefangen haben. Und wenn so eine Familie oder WG zum Beispiel aus vier Menschen besteht, dann haben sich am Ende – tärrääääh! – drei Viertel dieser Leute zu Hause infiziert. Um das auszurechnen, muss man wirklich kein Transzedentalmathematiker sein. Also: Shut up, bzw. down!

Wozu man hingegen die Transzedentalmathematik gut brauchen könnte, wäre um zu verstehen, warum beispielsweise die Schulen geöffnet bleiben, obwohl über den Sommer zumeist keinerlei wirklich gängige Hygienekonzepte entwickelt, geschweige denn Luftfilter für die Klassenräume angeschafft wurden. Gut, da sich inzwischen die Infektionsrate bei Kindern verzehnfacht hat, landesweit immer mehr Klassen und Lehrerkollegien in Quarantäne müssen und normaler Unterricht mithin kaum noch möglich ist, ist dies hier eine relativ theoretische Rechenaufgabe, wir stellen sie aber dennoch: Wenn zwei Haushalte à 4 Personen (2 Kinder, 2 Erwachsene) sich zum gemütlichen Beisammensein treffen dürfen, alle vier Kinder in unterschiedlichen Klassen à 25 Schüler sitzen und zudem ein Elternteil noch Lehrer ist und selber regelmäßig 3 Klassen unterrichtet – wie viele potentiell infizierte Menschen sitzen dann unsichtbar mit im Raum? Na?

Nein, der “Lockdown Light” ist so absurd, wie die “Öffnungsdiskussionsorgien” (A. Merkel) im Frühjahr, als die Landesfürsten mit Blick auf die Wählergunst alles daran setzten, das Leben schnellstmöglich wieder zu normalisieren und sogar Urlaubsreisen möglich zu machen. Letztlich hat sich Deuschland zu jenem Zeitpunkt auf einen Weg begeben, der von den funktionierenden Pandemiemaßnahmen in Neuseeland, Süd-Korea, Taiwan, Vietnam etc. weg- und zum schwedischen Modell hinführt. Und im Zuge dessen gab es geradezu rührende Appelle an “Solidarität” und “Eigenverantwortung” der “Zivilgesellschaft” – Werte die von der neoliberalen Gesellschaft gewöhnlich immer dann beschworen werden, wenn es darum geht, wichtige soziale Aufgaben aus der staatlichen Finanzierung ins “Ehrenamt” zu verlagern. Rührend deswegen, weil es hier ja eben nicht darum geht, ein paar noch fühlende Menschen zu unentgeltlichen Hilfsleistungen für andere zu motivieren (was meistens klappt), sondern darum, in der gesamten Horde kanibalistisch-entfremdeter Verbraucherexistenzen, die ihre neoliberale Halluzination von Freiheit bereits massiv beeinträchtigt sehen, wenn man sie auffordert, sich für die 15 Minuten im Supermarkt einen Lappen vor Mund und Nase zu hängen, ein Gefühl von mitmenschlicher Verantwortung wachzukitzeln. Dieses Projekt musste scheitern und ist gescheitert.

Die politischen Lichtgestalten, die den 16 Bundesländern vorstehen, hielt das gestern natürlich nicht davon ab sämtliche von der Naturwissenschaftlerin im Kanzleramt ins Spiel gebrachten Lockdown-Verschärfungen abermals zu bloßen Empfehlungen und Appellen herabzustufen. Der Grund dafür: ein poltisches Kalkül bezüglich künftiger Wahlen, das man gestrost ebenfalls der Transzedentalmathematikzuordnen kann. Stehen doch derzeit immerhin 86 Prozent der Bevölkerung den Corona-Maßnahmen positiv gegenüber, während die restlichen 14 Prozent ohnehin AfD oder FDP wählen, bzw. Attila Hildmann oder den wiedergeborenen Wilhelm II wählen würden, wenn das ginge.

Für uns Kulturschaffende bedeutet das, dass wir nicht einen begrenzten Zeitraum auftrittslos überstehen, sondern wohl bis zum nächsten Sommer in einer permanenten Unsicherheit existieren müssen. Immer wieder Auftritte hoffnungsvoll annehmen und bewerben, die dann nach 200 Mails und Telefonaten hin und her doch wieder abgesagt oder verschoben werden, heißt für uns, Arbeitszeit und -kraft sinnlos zu verbrennen, die wir bei einem richtigen Lockdown (also einem, der darauf abzielt, die Pandemie ernsthaft in den Griff zu kriegen) darauf konzentrieren könnten, für vernünftige Hilfsgelder, Mietfreiheit für geschlossene Kultureinrichtungen und vor allem – Perspektiven für die Zeit danach zu streiten. Was jetzt hingegen passiert, ist ein langsames Ausbluten des kompletten Kultursektors inklusive der freien Veranstaltungsorte in der Gastronomie.

Den intellektuell gemeinhin eher unterkomplexen deutschen Provinzfürsten aber sind solche pandemischen Kollateralschäden offenbar ebenso egal wie die Hilferufe aus den Krankenhäusern – so lange nur der ordentliche Deutsche weiter in seinem ordentlichen Job für das Bruttosozialprodukt ackern kann. Dafür müssen die Schulen, die sie mehr als Kinderbetreuungseinrichtungen denn als Lehranstalten denken, natürlich offen bleiben. Und selbst die banalste Regel aus den Vorschlägen des Kanzleramts, nämlich bei Erkältungssymptomen zu Hause zu bleiben, muss dafür abgeschmettert werden …

Damit nun aber genug und zu unserer eigenen Arbeit: Da hat beispielsweise Manja Präkels kürzlich noch einmal einen Artikel über unseren Kiez in der Taz veröffentlicht, der daran erinnert, dass es für das Versagen von Politik und Verwaltung nicht zwangsläufig eine Pandemie braucht. Und Markus Liske hat sich in einer Jungle World-Diskussion für die Ehrenrettung einer schlecht beleumundeten Pilzart stark gemacht, die der Gastronomie pandemiegerecht über den Winter helfen könnte. Außerdem hat Euch DER SINGENDE TRESEN seinen Auftritt im Festsaal Kreuzberg als musikalischen Gruß auf Vimeo gestellt. Unsere Rubrik …

Termine

allerdings schenken wir uns fürs erste. Mancher Auftritt, der kommen sollte, wird wohl als Online- oder Hybridveranstaltung stattfinden. Welche das im Einzelfall sind, könnt Ihr dieser Seite hier dann tagesaktuell entnehmen. Hingewiesen sei nur auf eine Diskussionsrunde zum Thema “30 Jahre Brandenburg”, die am 06.12. um 11 Uhr auf Inforadio läuft. Das ist der Mitschnitt einer gerade stattgefundenen Zoom-Debatte zwischen Manja Präkels, dem Ex-Ministerpräsidenten Matthias Platzeck und Susanne Krause-Hinrichs (Christian-Flick-Stiftung) zur Entwicklung Brandenburgs von 1990 bis heute.

Ansonsten bleibt uns vorerst nur, Euch Kraft und Gesundheit für einen langen Winter zu wünschen! Vermeidet unnötige Kontakte so gut es geht und denkt dabei an die, die zu unser aller Wohl keine Kontakte meiden können – die Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen, die Ärztinnen und Ärzte, die Supermarktangestellten und leider bislang auch Lehrerinnen und Lehrer. Denn all die hätten viel mehr Grund zum Jammern als wir Kulturarbeiter, die wir “nur” zu Hause bleiben müssen. Also: Haltet bei allem Abstand zusammen, unterstützt die Orte und Projekte, die Euch lieb sind und bildet virtuelle Banden für die Zeit danach!

Eure Aktiv-Winterschläfer in der
Gedankenmanufaktur WORT & TON