WORT & TON im Mai/Juni 2022

Liebe Freunde von WORT & TON,

wann wurde eigentlich das gute, alte Briefgeheimnis abgeschafft, und gilt das für uns alle? Oder sind nur Prominente aus Funk und Fernsehen verpflichtet, ihre Briefe stets als „offene“ zu versenden? Ist das vielleicht die „Transparenz“, von der in den letzten Jahren so viel geschwärmt wurde?

Zugegeben, es könnte ja durchaus interessant sein, die Korrespondenz von Künstlern und Intellektuellen mit unserem Regierungspersonal mitlesen zu dürfen. Man bräuchte dafür halt nur ein paar echte Künstler und Intellektuelle, und die sind inzwischen offenbar rar gesät in diesem Land. Deshalb müssen regelmäßig Leute einspringen, bei denen eine gewisse mediale Präsenz notdürftig kaschiert, dass ihre Meinungen und Ansichten mangels jeglicher Expertise für irgendwas letztlich völlig irrelevant sind. Spannend ist die Liste der Erstunterzeichner allerdings oft trotzdem. Schließlich gibt sie uns einen Einblick, welche Leute der Initiator eines solchen „Offenen Briefes“ in der Kurzwahl seines Handys gespeichert hat.

Die aus irgendeiner RTL-Quizshow der Neunzigerjahre bekannte Steuerhinterzieherin, Pegida-Versteherin und zeitweilige BILD-Haubitze gegen einen unzüchtigen Wettermoderator Alice Schwarzer zum Beispiel hat offensichtlich einen recht illustren Bekanntenkreis: Martin „Auschwitzkeule“ Walser sowie dessen Tochter und Schwiegersohn (beide zuweilen im „Tatort“ zu sehen) gehören ebenso dazu wie der Klimawandel-Relativierer Dieter Nuhr und die schon mal mit Sarah Wagenknecht „aufgestandene“ Theologin Antje Vollmer. Auch diese Talkshow-Philosophin, die immer dann angerufen wird, wenn Richard David Precht keine Zeit hat, ist dabei und eine tapfere Streiterin für Durchseuchungsfreiheit, die ein paar Bücher geschrieben hat und deshalb schon mal mit Literaturkritiker Denis Scheck ausreiten durfte. Leider kennt Alice Schwarzer aus ihrer feministischen Jugendzeit auch Alexander Kluge und Gerhard Polt, und leider sind beide inzwischen wohl so alt, dass sie auf jeden noch so dilettantischen Enkeltrick reinfallen.

Bei so viel geballter TV-Prominenz (eigentlich fehlt nur Jan Josef Liefers) könnte es fast schon egal sein, was diese Leute unserem aktuellen Kanzlerdarsteller schreiben, ginge es nicht ums Äußerste: den ATOMKRIEG! Vor dem haben sie nämlich alle Angst, was durchaus verständlich ist. Nicht nur, dass so ein Krieg das Projekt Menschheit ziemlich sicher komplett beerdigen würde. Mit der Menschheit ginge zwangsläufig auch das Fernsehen dahin, und all die Unterzeichner dieses Briefes wären somit gleich doppelt tot – nicht nur körperlich, auch medial! Was das bedeutet, können normale Menschen wie … sagen wir mal: irgendwelche ukrainischen Bauern natürlich gar nicht verstehen. Für die geht es immer nur um so banale Dinge, wie etwa der Vergewaltigung, Folterung, Ermordung oder Deportation durch eine faschistische Invasionsarmee zu entgehen. Und wegen solcherlei Lappalien drohen diese Untermenschen uns dann mit dem Atomkrieg! Ach, tun sie gar nicht? Stimmt ja, es ist dieser Putin, der droht. Deswegen, so schlagen die Unterzeichner vor, müssen wir mit ihm verhandeln und einen „Kompromiss“ finden, „den beide Seiten akzeptieren können“.

Nun könnte man da kritisch anmerken, dass ein solcher Kompromiss zwischen einem Land, das gerne weiterexistieren möchte, und einem Aggressor, der dieses Land auslöschen möchte, viel einfacher zu fordern als zu finden sei. Aber wer das denkt, der hat den Brief von Frau Schwarzer und ihren Freunden nicht richtig verstanden. Es geht ihnen nämlich gar nicht um einen Kompromiss zwischen Putin und der Ukraine, sondern um einen Kompromiss zwischen Putin und ihnen selbst. Und der liegt ja eigentlich auf der Hand: Putin kriegt diese blöde Ukraine, damit er nach Herzenslust vergewaltigen, morden und deportieren lassen kann. Im Gegenzug garantiert er den Schwarzers, Zehs und Nuhrs, dass sie in alle Ewigkeit dummes Zeug in TV-Kameras schwätzen dürfen, ohne fürchten zu müssen, dass sie dafür in einem Atomblitz verglühen. Sache erledigt. Frieden auf Erden.

Aber im Ernst: Als Kinder des sogenannten Kalten Krieges leben wir alle seit unserer Geburt unter dem Damoklesschwert der „atomaren Abschreckung“. Und ja, wir hatten und haben zu Recht Angst davor, dass irgendwann ein faschistischer Ex-KGB-Agent im Kreml oder ein orangehaariger Irrer im Weißen Haus auf den Knopf drücken könnte. Was uns bislang davor bewahrt hat, ist, dass diese Typen einerseits Kinder und Enkelkinder sowie andererseits diverse Untergebene haben, ohne deren aktive Mitwirkung, dieser Knopf gar nicht zu drücken ist. Sich darauf verlassen zu müssen, ist natürlich ziemlich gruselig, weshalb man diesen perversen Zustand bereits seit 60 Jahren zu Recht als „Gleichgewicht des Schreckens“ bezeichnet. Der einzige Weg aus dem Dilemma wäre eine weltweite atomare Abrüstung. Vor der Drohung mit dem Atomkrieg zu kuschen hingegen und den Menschen in der Ukraine die Solidarität zu verweigern, ändert rein gar nichts an der Gefährdungslage – eher im Gegenteil. So unsinnig es daher ist, die Bundeswehr aufzurüsten, so wichtig ist es, der Ukraine Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Es geht hier nicht um Bellizismus versus Pazifismus. Es geht hier um Beistand für die Angegriffenen versus wohlstandsverwahrloste Gleichgültigkeit gegenüber deren Leid. Danke an Alice Schwarzer für das passende Gesicht zu dieser Position!

Nun zu erfreulicheren Themen: Es muss ja vielleicht aus gar nicht alles schlecht sein an so einer atomaren Apokalypse, wie Markus Liske kürzlich unter dem Titel „Besser jetzt als nie“ in der Jungle World ausführte. Und bis es tatsächlich so weit kommt, kann man noch allerlei inspirierende Diskussionen über Literatur führen. Zum Beispiel über Sinn und Unsinn eines linken literarischen (Gegen-)Kanons. Wer Liske bei dieser Debatte im Literaturforum im Brecht-Haus verpasst hat, kann sich hier den Mitschnitt anschauen.

Höchst Erfreuliches gibt es auch von DER SINGENDE TRESEN zu vermelden: Nach diversen pandemiebedingten Hürden hat die Band ihre fulminante neue CD „alleswasderfallist“ endlich doch noch fertig aufnehmen können. Jetzt geht es ans Mischen. Nicht mehr lang also, bis ihr das Werk in Händen halten könnt!

Und gleich mehrere frohe Botschaften gibt es von Manja Präkels: Ihre Essaysammlung „Welt im Widerhall“, die im Herbst im Verbrecher Verlag erscheinen wird, nähert sich gerade mit großen Schritten der Fertigstellung. Außerdem wurde die Inszenierung von „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ am Theater der Altmark in Stendal gerade für den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ vorgeschlagen. Und in der neuen Brandenburg-Ausstellung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam könnt ihr jetzt im Raum über die Neunzigerjahre Präkels‘ Koffer mit den Recherchen zu „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ bestaunen. Wir waren selber noch nicht da, aber in der Taz wurde die Ausstellung sehr gelobt.

Ansonsten haben wir in den letzten Wochen vor allem an der von uns kuratierten neuen Lesereihe „Das literarische Rondell“ im Café MadaMe am Mehringplatz gearbeitet. Im Rahmen dieser Lesereihe werden wir künftig an jedem ersten Donnerstag im Monat Autorinnen und Autoren präsentieren, die in diesem stark postmigrantisch geprägten Kiez Flucht, Ankunft und persönliche Erinnerungen thematisieren. Außerdem wollen wir Bücher vorstellen, die sich mit der faszinierenden Historie des Platzes auseinandersetzen. Die Lesereihe findet in Kooperation mit dem Verbrecher Verlag und dem Theater HAU – Hebbel am Ufer statt, das hier im Juni auch ein zweiwöchiges Kulturfestival veranstalten wird. Präkels wird dabei im Rahmen ihrer TakeHeart-Residenz als „Storycatcher“ mit den Anwohnern des Platzes über ihre Lebensgeschichten, Wünsche und Träume sprechen. Und damit sind wir auch schon bei unserer Rubrik …

TERMINE

So. 08. Mai – 20 Uhr

Das seid ihr Hunde wert!

Erich Mühsam-Hommage mit: Markus Liske, Manja Präkels & Der Singende Tresen

Theater im Fraunhofer

Fraunhoferstr. 9
München

 

Di. 10. Mai – 17 Uhr

Lesen gegen das Vergessen

Manja Präkels und viele andere lesen zum Jahrestag der Bücherverbrennung

Bebelplatz
Unter den Linden 9
Berlin-Mitte

 

Do. 02. Juni – 19 Uhr

Auftaktveranstaltung „Das literarische Rondell“

Manja Präkels, Markus Liske und Der Singende Tresen zeigen ihr Programm „Wo ist Zuhause, Vogelherz?“

Café MadaMe

Mehringplatz 10

Berlin-Kreuzberg

 

Sa. 11. Juni – 21 Uhr

„Wo ist Zuhause, Vogelherz?“ mit: Manja Präkels, Markus Liske & Der Singende Tresen

Thüringer Literaturtage

Burg Ranis

Thüringen

 

Fr, 17. Juni

Start des HAU-Festivals „Berlin bleibt! #4 – Treffpunkt Mehringplatz“

(nähere Infos im nächsten Newsletter)

Wir hoffen sehr, euch hier oder dort zu sehen. Zum Abschluss für heute nur noch dies: Lasst euch nicht irremachen! Ob wir Zeuge einer Gewalttat in der U-Bahn oder Zeuge eines Vernichtungskrieges gegen ein ganzes Land werden – in beiden Fällen sind wir als Menschen verpflichtet, den Angegriffenen zu helfen und zwar unabhängig davon, ob wir uns damit selbst in Gefahr begeben. Das nennt sich Solidarität. Und die sollte darüber hinaus nicht nur den Ukrainern gelten, sondern auch den Menschen in Russland und Belarus, die sich – ihr Leben riskierend – gegen ihre Despoten und gegen den Krieg stellen. Auch sie brauchen unsere Unterstützung, wenigstens in Form von Kommunikation und Hinsehen. Was die Welt zu so einem gefährlichen Ort macht, ist nämlich nicht zuletzt Desinteresse an allen und allem, das keinen konkreten – wirtschaftlichen – Nutzen für „uns“ hat. Diese Haltung, die jahrzehntelang die deutsche Osteuropapolitik geprägt hat und nun auch aus dem „offenen Brief“ von Alice Schwarzer und ihrer Kurzwahlliste spricht, gilt es dringend abzulegen. Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat darüber einen sehr klugen Vortrag gehalten, dessen Druckfassung wir euch hier gerne verlinken.

Alles Gute & bis bald!

Eure ganz und gar nicht bellizistischen, aber stets solidarischen Friedensfreunde in der

Gedankenmanufaktur WORT & TON