Liebe Freunde von WORT & TON,
die gute Nachricht vorweg: Es ist Sommer. Endlich wieder bis tief in der Nacht im Biergarten sitzen! Endlich wieder die Gummiente gegen den Plastikschwan und die Badewanne gegen den See tauschen, im kühlen Nass treibend die Zeitläufte ignorieren! Dumm nur, dass die Zeitläufte ihrerseits nicht bereit sind, uns zu ignorieren. Das blöde Virus zum Beispiel hat gerade wieder ein paar neue Varianten ausgebrütet, die die Inzidenzen rasant steigen lassen. Und dass in der Ukraine weiterhin Menschen unter dem Beschuss von Putins Invasionstruppen sterben, merkt auch der entschlossenste Nachrichtenverweigerer spätestens dann, wenn er Sonnenblumenöl für seinen Kartoffelsalat braucht.
Weniger als tausend Kilometer trennen uns von Raketeneinschlägen und Massakern an der Zivilbevölkerung, Berlin liegt näher an Lviv als an Paris. Dennoch rutscht die eigentliche Kriegsberichterstattung Tag für Tag weiter von den Top-Schlagzeilen weg. In denen geht es meist nur um jene Kollateralschäden, die uns den Sommerspaß vermiesen: Leere Regale wegen gestörter Lieferketten, steigende Preise, Inflation. An den Krieg selbst haben wir uns längst gewöhnt, genau wie an die Inzidenzen und das fortgesetzte Versagen unserer Regierung vorausschauend Infektionsschutzmaßnahmen zu planen. Jeden Tag sterben mehr als 100 Menschen an Corona? Na, zum Glück werden jetzt am Wochenende keine Zahlen mehr übermittelt, sonst – stell dir vor – wären es vielleicht noch mehr. Das will doch keiner wissen, oder?
Manchmal aber ist es aber auch ganz lustig, zwischen Eiskaffee und Caipirinha mal im Handy die Nachrichtenlage zu checken. Ziemlich unterhaltsam war zum Beispiel der Prozess um die gegenseitigen Gewalt-, Missbrauchs- und Verleugnungsvorwürfe des Schauspieler-Paars Johnny Depp und Amber Heard, auch wenn man schnell den Überblick verlor, wer da wem ins Bett gekackt oder die Fingerkuppe amputiert hat. Toll war vor allem, dass die konservative Presse mal wieder ihren ganzen archaischen Frauenhass ungefiltert raushauen konnte, und dass wir Zuschauer uns zudem nicht wie blöde Spanner fühlen mussten, die sich am Beziehungselend anderer Leute aufgeilen. Denn schließlich hatte man uns ja frühzeitig mitgeteilt, dass hier mehr verhandelt würde als das toxische Eheleben zweier Leinwandstars. Glaubt man der Mehrzahl der Kommentatoren, so war es nämlich die „#MeToo-Bewegung“, die hier eigentlich vor Gericht stand, und mit dem Urteil zuungunsten von Heard krachend gescheitert sei …
Nun ist es natürlich hanebüchener Blödsinn zu denken, dass es eine Legitimation von häuslicher Gewalt und Missbrauch bedeute, wenn in einem einzelnen Prozess die Geschworenen am Ende offenbar eher dem Mann als der Frau glauben. Zumal nichts an diesem bizarren Rechtsstreit zwischen zwei mühsam als Menschen verkleideten Hollywood-Zombies dazu taugt, in einem anderen Kontext als Präzedenzfall herangezogen zu werden. Doch wenn man so ein Verfahren erst mal zu einer Art jüngstem Gericht hochgejazzt hat, dann gilt eben der alte Robinson Crusoe-Lehrsatz: Man kommt leichter auf die Palme rauf als wieder runter.
Manche allerdings finden den Weg hinauf auf die Palme auch nur, wenn man sie kräftig anschiebt. Die Verantwortlichen der diesjährigen Documenta zum Beispiel, die erst mittels sachdienlicher Hinweise via Twitter und Facebook darauf gebracht werden mussten, dass die Darstellung von Juden mit Vampirzähnen und SS-Runen auf dem Hut möglicherweise und ganz vielleicht ein klein bisschen antisemitisch sein könnte. Inzwischen ist das inkriminierte Kunstwerk wieder entfernt worden, der Lerneffekt scheint sich jedoch in Grenzen zu halten, wie man den Worten der Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann entnehmen kann: „Alle Beteiligten bedauern, dass auf diese Weise Gefühle verletzt wurden. Gemeinsam haben wir beschlossen, das Banner zu verdecken. Ergänzend holen wir weitere externe Expertise ein.“
Antisemitismus ist für Frau Schormann also einerseits reine Gefühlssache, andererseits hier noch lange nicht belegt. Da müssen erst mal Experten ran, die dann … was genau untersuchen sollen? Ob SS-Runen und Vampirzähne im Kulturkreis des indonesischen Künstlerkollektivs vielleicht irgendwas mit Frieden und Glück bedeuten? Ob Antisemitismus ohnehin nur eine dieser eurozentristischen Denkfiguren ist, die wir Ex-Kolonialherren anderen Kulturen überstülpen, um ihre freie Entwicklung zu behindern? Oder ob das alles am Ende gar kein Antisemitismus ist, sondern legitime Kapitalismuskritik, weil man ja noch aus dem „Stürmer“ weiß, dass Juden und Geld … na, Sie wissen schon, zwinkerzwinker …
Es ist schon ein Elend mit der hiesigen Kulturszene. Unser Tipp: Meidet Groß-Events wie die Documenta und kommt lieber hier zu uns an den Mehringplatz. Hier nämlich geht es demnächst mit gleich zwei Veranstaltungen der neuen Literaturbühne „Das literarische Rondell“ weiter. Der Auftaktabend mit unserem Programm „Wo ist Zuhause, Vogelherz?“ war schon ziemlich berauschend, wie ihr der Nachberichterstattung der Taz entnehmen könnt. Nun geht es an selber Stelle demnächst um die Lyrik von Semra Ertan, die sich 1982 aus Protest gegen den Rassismus in der BRD öffentlich selbst verbrannte, und eine Woche später die Autorin und Rumänisch-Übersetzerin vom Leben der Roma in Berlin. Näheres dazu unter „Termine“.
Auch spannend ist das Festival „Berlin bleibt #4“ des HAU-Theaters rund um den Mehringplatz, an dem wir uns auf verschiedene Weise beteiligen. So verlegt etwa Manja Präkels an mehreren Tagen ihren Schreibtisch in den öffentlichen Raum, um Geschichten und Erinnerungen der Kiezbewohner festzuhalten. Außerdem haben Manja Präkels und Markus Liske ihre persönlichen Eindrücke sowie ein paar Szenen aus der Historie dieses faszinierenden Viertels in einem gemeinsamen Essay für die HAU-Festivalzeitschrift festgehalten. „Soll das ein Vogel sein?“, heißt der Text und heißt auch Manjas Geschichtensammlung am öffentlichen Schreibtisch.
Ebenfalls um das liebe Federvieh geht es in Markus Liskes Artikel „Schräge Vögel“ in der Jungle World, beziehungsweise eher um eine faszinierende neue Verschwörungsideologie, nach der dieses Federvieh halt doch nicht ganz so lieb ist, wie man gemeinhin denkt. Und sogar von DER SINGENDE TRESEN gibt es Vogeliges zu vermelden, denn auf der neuen CD „alleswasderfallist“ werden gleich mehrere Stücke aus unserem „Vogelherz“-Programm zu hören sein. Aufgenommen sind die Songs alle schon, demnächst gehts nun endlich mit dem Mischen los. Zuvor allerdings muss Manja Präkels noch einige Lesungen absolvieren. Hier die …
TERMINE
Fr. 24. Juni – 18 Uhr
Manja Präkels liest „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“
bei der „Gala gegen Rechts“ mit Musikprogramm und Buffet zum Andenken an Silvio Meier
Lausitzer Platz 15
Berlin-Kreuzberg
So. 26. Juni – 11:30
Manja Präkels liest „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“
Grazauer Str. 20
Strausberg
Mo. 27. Juni – 19:00
Manja Präkels liest „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“
Königstr. 11
Bad Freienwalde
Do. 30. Juni – 19:30 Uhr
Das literarische Rondell #2:
„Gleiche Sorgen“* – Empowerment und Selbstorganisation in den Gedichten von Semra Ertan
Lesung & Diskussion mit: Nuray Demir, Efsun Kızılay, Hülya Kıymet Kılıç und Saboura Naqshband
Mehringplatz 10
Berlin-Kreuzberg
Sa. 02. Juli – 18 Uhr
„Baseballschläger in blühenden Landschaften“
Lesung und Diskussion mit: Manja Präkels, Hendrik Bolz und Steffen Mau
Bockenheimer Landstraße 42-44
Frankfurt am Main
Do. 07. Juli – 19 Uhr
Das literarische Rondell #3
Eva Ruth Wemme liest: „Meine 7000 Nachbarn“
Moderation: Verbrecher Verlag
Mehringplatz 10
Berlin-Kreuzberg
Fr. 15. Juli – 19 Uhr
Manja Präkels liest „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“
Stadtbibliothek im Forum Confluentes
Zentralplatz 1
Koblenz
Ab 16. Juli werden wir erst mal eine zweiwöchige Sommerpause einlegen und uns gepflegt die Sonne auf den Bauch brennen lassen, bevor es im August sowohl mit dem literarischen Rondell als auch eigenen Auftritten fulminant weitergeht. Leider keine Pause einlegen werden hingegen Wladimir Putin mit seinem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und dieses miese Virus mit seinen Aerosolattacken. Und dagegen können wir alle deprimierend wenig tun, außer stets wachsam bleiben und jedem ins Wort fallen, der Unsinn darüber verbreitet. Um es mit Erich Mühsam zu sagen: „Von hoher Warte aus wollen wir Menschenrecht und Menschenwürde bewachen und ins Horn stoßen, wenn ihnen Gefahr droht!“
Wir sehen uns!
Eure Hobby-Ornithologen und Menschenfreunde in der