Liebe Freunde von WORT & TON,
können sich bitte endlich alle darauf besinnen, dass wir jetzt Sommerloch haben? Wir lieben sie doch so, diese alljährliche wiederkehrende, nahezu nachrichtenlose Zeit, wenn Politiker und Journalisten gemeinsam Urlaub machen, und unsereiner es ihnen getrost nachtun kann, in der sicheren Gewissheit, nichts zu verpassen. Stattdessen jagt ein geradezu apokalyptischer Aufreger den nächsten. Die gerade zu Ende gegangene Fußball-EM der Frauen zum Beispiel: Betrug! Verrat! Schon wieder Wembley! Oder weiße Musiker mit Dreadlocks, die in einem schweizer Club vor 40 Menschen Reggae spielen: Kolonialismus! Ausbeutung! Kulturdiebstahl! Beziehungsweise: Cancel Culture! Zensur! Woke Diktatur!
Gut, unser Blutdruck bleibt bei derlei Nachrichten glücklicherweise erfreulich stabil. Klar hätte das deutsche Nationalteam den Sieg verdient gehabt, aber die Engländerinnen waren eben auch richtig gut. Der Rest ist Schicksal. Und wenn sich nun selbst Studis der Berner Fachhochschule, nur wenige Jahre nach den ersten solcher Skandälchen bei uns, am fragwürdigen Konzept der “Kulturellen Aneignung” abarbeiten, zeigt uns das – Unsinn oder nicht – in erster Linie, dass die Uhren in der Schweiz wenigstens nicht mehr ganz so langsam laufen wie früher. Zum Vergleich: Das Frauenwahlrecht wurde bei unseren südlichen Nachbarn erst 1971 eingeführt, ja, im Kanton Appenzell Innerrhoden gar erst 1990.
Nicht einmal die immer neuen Antisemitismusfälle der laufenden Documenta beschleunigen noch unseren Puls. Nur ein süffisantes Lächeln entlocken uns sogar jene Kommentatoren, die versuchen, die Vorwürfe zu negieren, indem sie darauf hinweisen, dass eine der inkriminierten Figuren auf dem inzwischen entfernten Kunstwerk zwar Schläfenlocken, aber doch europäische Kleidung trägt, und somit gar keine Judenkarikatur sein kann, weil sie noch aus dem “Stürmer” wissen, dass Juden grundsätzlich im Kaftan einherschreiten.
Nicht einmal angesehen haben wir uns die Fotostrecke des Ehepaars Selenskyj im Modemagazin Vogue, über die sich derzeit vor allem jene vorgeblich linken Journalisten entrüsten, die schon seit Kriegsbeginn versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass eigentlich die Ukraine Russland angegriffen hat und nicht umgekehrt. Und selbst die peinliche Antwort des inzwischen stramm putinistischen Konkret-Magazins auf die Erklärung zahlreicher von uns hochgeschätzter Stammautoren an derlei menschenverachtendem Bullshit künftig nicht mehr mitwirken zu wollen (im Kern: “Selber blöd!”), haben wir nur mit einem halben Auge überflogen. Denn schließlich haben wir Sommerloch, und ein Loch darf man nicht füllen, weil – es sonst eben kein Loch mehr ist. Könnten sich also alle bitte mal zusammenreißen?
Was im Sommerloch erlaubt ist, das sind ausgedehnte Waldspaziergänge (sofern ihr einen findet, der gerade nicht brennt), lustige Urlaubsfotos auf Instagram, auf die vorher garantiert noch keiner gekommen ist (gegen den schiefen Turm von Pisa lehnen – wie witzig!), Grillabende und vor allem, solange noch nicht alle Seen ausgetrocknet sind: schwimmen, schwimmen, schwimmen. Zur Not tun es natürlich auch städtische Freibäder, auch wenn die immer mal wieder mit unschönen Konflikten in die Schlagzeilen geraten, jedenfalls deutlich häufiger als die Privatpools der Oberschicht. Das ist natürlich (Bade-)Wasser auf die Mühlen derer, die sämtliche öffentlichen Bäder lieber heute als morgen schließen würden, um mit den Steuergeldern lieber schönere Dinge zu finanzieren. Einen neuen Christian-Lindner-Privatflughafen auf Sylt vielleicht oder weitere Finanzspritzen für Mineralölkonzerne.
Wie das alles miteinander zusammenhängt, hat Markus Liske gerade unter dem Titel “Freier schwimmen ohne Bäder” für die kommende Jungle World zu Papier gebracht (Link dann im nächsten Newsletter). Außerdem haben Manja Präkels und Markus Liske für die Literaturzeitschrift Tagebuch einen gemeinsamen Essay über das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vor genau 30 Jahren geschrieben. “Ein Volksfest des Hasses” heißt der Text und ist hier zu lesen.
Darüber hinaus freuen wir uns, gemeinsam mit den TRESEN-Kollegen Thorsten Müller und Benjamin Hiesinger das Initial2-Stipendium der Akademie der Künste erhalten zu haben. Ziel unseres Projektes ist es, sich künstlerisch weiter in Geschichte und Gegenwart des Kreuzberger Mehringplatzes zu vertiefen, vor allem seinen Klang zu erfassen und damit dann sowohl textlich als auch musikalisch zu arbeiten. Wie dieser Platz früher aussah und welche Bedeutung er hatte, darum geht es auch in der nächsten Ausgabe unserer Lesereihe “Das literarische Rondell”. Der Veranstaltungshinweis, gleich hier, unter:
TERMINE
Do. 04. August – 19:30 Uhr
Das literarische Rondell #4: Verleger Stefan Weidle präsentiert Theodor Wolffs Roman “Die Schwimmerin”
Lesung & Gespräch über den historischen Mehringplatz, das frühere Berliner Zeitungsviertel, den Journalisten Theodor Wolff und seine Sekretärin, die Widerstandskämpferin Ilse Stöbe / Moderation: Markus Liske
Gefördert von der Stiftung Preußische Seehandlung
Mehringplatz 10
Berlin-Kreuzberg
Sa. 06. August – 20 Uhr
“Himmel ohne Richtung”
Blätterkonzert mit: Manja Präkels & Markus Liske
Kunsthaus Neuneinhalb
Nürnberger Str. 42
Bayreuth
Sa. 20. & Sa. 27. August – jeweils 19:30 Uhr
2-teilige TV-Doku “Aufgewachsen unter Glatzen”
u.a. mit: Manja Präkels, Daniel Schulz, Hendrik Bolz, Lukas Rietzschel, Henrike Naumann und Mai Phuong Kollath
Do. 01. September – 19:30 Uhr
Das Literarische Rondell #5 – Weiter Schreiben: “Klangkörper” mit Ahmad Katlesh & Ulrike Almut Sandig
Ausführliche Infos zu diesem Projekt im nächsten Newsletter!
Mehringplatz 10
Berlin-Kreuzberg
Sa. 03. September – 15-19:00 Uhr
Manja Präkels liest aus ihrem neuen Essayband “Welt im Widerhall”
Festival “Literatur auf der Parkbank”
Goethe-Park / Carl-Blechen-Park
Cottbus
All das, liebe Freunde, tun wir natürlich nur, um nicht aus der Übung zu kommen. Ansonsten gehen wir mit dem Sommerloch um, wie es am besten alle tun sollten: reinspringen, drin herumplanschen, danach grillen, das eine oder andere kühle Getränk dazu und mit einem guten Buch früh ins Bett gehen.
Über Nachrichten ärgern wir uns erst wieder, wenn die Temperaturen sinken. Dann aber gewohnt wortreich und gewaltig – versprochen!
Macht’s jut & bis in Bälde!
Eure rundum entspannten Freischwimmer in der